Balkan Blues
Menschen schaffen, doch Vassilis kannte Marx nicht, er kannte nur den Kreissekretär. Die Sowjetunion wurde aufgelöst, Vassilis nahm seine Familie und kam nach Griechenland, um auch hier dieselbe sozialistische Keimzelle zu errichten – so wie er sie verstand. Das System funktionierte prächtig bis zu dem Tag, als er beschloß, das Speiselokal zu eröffnen. Da stellte sich ihm die Frage: Was sollte er mit Tatjana anfangen, einer jungen Frau von zweiundzwanzig Jahren, hellblond, blauäugig, langbeinig und zart wie eine Elfe? Erst dachte er, sie zu Hause einzuschließen. Aber sollte sie bis zu ihrer Rückkehr um drei Uhr morgens allein zu Hause bleiben? Da kam ihm der Gedanke mit der Kasse. So würde sie sowohl dem Unternehmen dienen als auch unter seiner Aufsicht stehen.
Die erstarrte Büste, welche die Kunden jeden Abend erblickten, war Vassilis’ Werk. Tatjana spürte ständig den Blick des Vaters, selbst wenn er in der Küche oder gar nicht im Lokal war. Denn in seiner Abwesenheit kontrollierten sie die Brüder mit ihren Blicken. Also lernte sie, ihren Kopf gebeugt zu halten und nur Hände zu sehen – die Hände ihrer Brüder, wenn sie die Rechnungen holten –, Stimmen zu hören und die Befehle aufzuschreiben: »Ein Kartoffelsalat für Tisch zwei! Drei Borschtsch für Tisch elf!«
Mit der Zeit schärfte sich ihr Gehör wie bei einer Blinden. Sie konnte aufgrund der Stimmen im Lokal sagen, wie viele Gäste an jenem Abend da waren, wer Stammgast war und wer zum ersten Mal kam. Ihr genügte der Klang der Stimme, um zu wissen, wer an welchem Tisch saß.
Das Odessa lag an der Ajion-Assomaton-Straße, in einer Gegend, wo sich die Oberschicht und der Bodensatz Athens trafen, wo der Pelzmantel der Kunstlederjacke und der Mercedes dem dreirädrigen Motorkarren begegnete. Es gehörte sicherlich nicht zu den teuren Restaurant-Bars, die sich in den neoklassizistischen Bauten eingenistet hatten. Es war in einem alten Handwerksbetrieb mit nackten hohen Fenstern untergebracht. Doch dank der russischen Küche hatte das Odessa bald einen gewissen Ruf erworben. Nach und nach sank unter den Gästen die Zahl der Kunstlederjacken, während die der Mäntel aus Kamelhaar und Schurwolle stieg.
Es war Vassilis Serchidis’ großer Traum, das Odessa zu einem Restaurant mit weiß gestärkten Tischdecken, weiß gestärkten Servietten und Silberbesteck zu machen, ganz so wie eines jener Etablissements, in denen damals am Schwarzen Meer die Parteifunktionäre verkehrten.
»Hier geben Butterbrotpapier und Tischtücher mit Waffelmuster den Ton an«, sagte er für gewöhnlich. »Mir kommt das ja entgegen, aber ich muß schon sagen: Bei uns drüben ging’s aristokratischer zu.«
Restaurants wie jene am Schwarzen Meer, in denen die Parteibonzen dinierten, hätte er bestimmt in den nördlichen Athener Vororten finden können. Doch Vassilis kannte die Vororte im Norden Athens genausowenig, wie er Marx kannte.
Möglicherweise kannte sie der Anführer der Athener Zweigstelle der russischen Mafia, der eines Samstagabends gegen elf Uhr, als das Lokal brummte, das Odessa besuchte. Er war mittelgroß, um die Vierzig und hatte markante Gesichtszüge. Einer der beiden Schläger in seiner Begleitung trat Iosif in den Weg und fragte auf russisch: »Der Chef?«
Iosif begriff sofort. Er deutete auf die Küche, während die Teller in seinen Händen klirrten. Der Mafioso ging wortlos an ihm vorbei, und die beiden Schläger bezogen vor der Tür Stellung.
Tatjana spürte den Blick des Mafioso. Es war eines der wenigen Male, daß sie ihre Fassung verlor. Panik erfüllte sie, und sie wäre am liebsten hinter der Kasse verschwunden. Doch bald gewann sie ihre Fassung wieder, denn der Mafioso ging an ihr vorbei in die Küche. Er blieb vor Vassilis stehen und blickte ihn schweigend an, dann warf er noch einen Blick ins Lokal.
»Schöner Laden«, sagte er, als hätte sich sein erster Eindruck bestätigt.
Instinktiv legte Vassilis die Latte tiefer. »Ach was, ein billiger Schuppen. Stopft mit Müh und Not fünf Mäuler.«
»Kannst dir leisten, die Preise anzuheben. Du hast gute Kundschaft.«
»Wenn ich die Preise erhöhe, bleibt sie mir weg.«
»Angsthase«, sagte der andere und wiegte den Kopf. »Billigware verkauft sich nicht. Damit wir das begreifen, mußte bei uns alles den Bach runtergehen. Du solltest ein gehobenes Lokal führen, aber dafür brauchst du Schutz.«
Vassilis blickte ihm in die Augen. »Ich brauche keinen Schutz«, meinte er
Weitere Kostenlose Bücher