Balkan Blues
sich selbst. »Die lassen ihre Kinder wie Straßenköter im Park herumlaufen. Wenn sie abends nicht nach Hause zurückkommen, machen sie sich keine Gedanken, ob sie sich verlaufen haben oder ob ein Auto sie überfahren hat. Sie danken Gott, daß sie ein Maul weniger zu stopfen haben.«
Mit diesen Worten machte er seinem Abscheu Luft, aber das Kind begann ihn doch auch zu interessieren. Am nächsten Nachmittag fuchtelte er zwar wieder herum, aber diesmal in die andere Richtung, und statt den Stock gegen das Mädchen zu erheben, führte er ihn zu sich selbst heran. Gleichzeitig flüsterte er »Komm … Komm …« mit jener honigsüßen Stimme, die alte Leute perfekt beherrschen. »Komm, ich muß dir was sagen … Komm …«
Das Kind hatte zwei Schritte zurück gemacht, wie jedesmal, wenn der Alte es mit seinem Stock bedrohte, und es schaute ihn fragend an. Es war, als spielten sie jeden Tag das gleiche Spiel: Der Alte jagte das Mädchen mit dem Stock weg, und es trat zwei Schritte zurück, um ihn aus sicherer Distanz zu beobachten. Doch diesmal war das Kind vom veränderten Klang in der Stimme des Alten überrascht und angezogen. Der Alte bemerkte das, legte seinen Stock beiseite und winkte es mit der Hand zu sich heran.
Das Mädchen faßte Mut und kam einen Schritt näher. »Komm, setz dich neben mich«, sagte der Alte und klopfte mit der Handfläche auf den Platz neben sich auf der Parkbank, um ihm zu verstehen zu geben, daß er es in sein Reich einlud. Doch das Mädchen zögerte, ihm so weit entgegenzukommen. Schließlich hatte er noch bis gestern mit dem Stock gedroht, und diese plötzliche Freundlichkeit erschien ihm verdächtig.
Der Alte begriff, daß das Mädchen sich nicht neben ihn setzen würde, und bevor es ihm entwischte, stellte er eilig die Frage, die ihm auf der Zunge brannte:
»Bist du denn allein? Ist sonst keiner bei dir?« Aus seiner Stimme war der süße Klang verschwunden, worauf das Mädchen lieber fortrannte.
Doch der Alte hatte nicht vor, so schnell aufzugeben. Er versuchte es am nächsten Tag wieder. Diesmal sorgte er dafür, daß das Mädchen vor seinem Stock nicht erschrak. Sofort sang er sein »Komm, ich muß dir was sagen, komm …« Und erneut lud er es durch sanftes Klopfen auf das Holz seiner Parkbank ein.
Ein wenig war es der Stock, der nicht gefuchtelt wurde, ein wenig der freundliche Klang der Stimme – beides brachte das Mädchen dazu, Vertrauen zu fassen und ein wenig näher zu kommen. Auf die Parkbank setzte es sich jedoch nicht.
»Bist du allein hier? Wo ist deine Mama?« fragte der Alte das Mädchen plötzlich. Es merkte an seiner Stimme, daß er sich mit ihm unterhalten wollte, und so blieb es weiter vor ihm stehen, obwohl langsam wieder die ersten Kinder auftauchten. Vielleicht erschien es ihm interessanter zu erraten, was der Alte ihm zu erzählen hatte, als täglich neben den anderen Kindern her zu spielen.
»Die kommen und setzen euch im Park aus wie Straßenköter. Deine Mutter muß sicher arbeiten, damit ihr was zu essen habt, aber wäre es da nicht besser, ihr wärt in eurem Dorf geblieben? Wenn ich bloß wüßte, was es hier Besonderes gibt, daß ihr alle angetanzt kommt. Ein scheußlicher Ort ist das hier. Dort wärt ihr in eurem Dorf, und ein Dorf ist etwas anderes. Du kennst alle, und alle kennen dich, und jemand hat Mitleid und gibt dir einen Teller zu essen. Hier ist die Fremde. Als ich nach Athen kam, mit fünfundzwanzig, war es ein Dorf, und jetzt lebe ich in der Fremde. Ich kenne niemanden, und niemand kennt mich.«
Das Kind hörte der Rede des Alten ganz versunken zu. Es verstand kein Wort, doch vielleicht war es der Klang der Stimme, der es an die Alten in seiner Heimat erinnerte. Die alten Leute sprechen überall auf der ganzen Welt im gleichen Tonfall und fuchteln auf dieselbe Art mit ihrem Spazierstock. Die übrigen Generationen sind verschieden, die Alten sind überall gleich.
»Und du verbringst hier den ganzen Tag allein? Mutterseelenallein?« fuhr der Alte fort. Nun blickte er dem Mädchen in die Augen. Dessen Blick offenbarte, daß es nichts von seinen Worten verstand, aber das störte ihn überhaupt nicht. »Tja, was bin ich denn? Auch mutterseelenallein. Und ich bin kein Neger wie du, sondern Grieche. Bei dir ist das verständlich, aber bei mir? Du kannst wenigstens herumspringen. Ich sitze stundenlang auf dieser Bank, und bin ich dann wieder zu Hause, brüte ich auf meinem Stuhl weiter. Sie sollten sich mehr bewegen, sagt der Kassenarzt.
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