Balkan Blues
vom Vater erfahren können, doch was hätte das für einen Sinn gehabt? Wer wußte schon, wann er aus dem Gefängnis kommen und ob er sich dann überhaupt dafür interessieren würde, was aus seiner Tochter geworden war. Für sie war es besser, einen griechischen Namen zu haben.
Das schwarze Mädchen gewöhnte sich rasch an den Namen Marina, und schon bald sprach es so gut Griechisch, daß ihm das Wort »Opa« gar keinen besonderen Eindruck mehr machte. Nach einem Jahr war es – mit Ausnahme seiner Hautfarbe – zu einem richtigen kleinen Griechenkind geworden. Auch das ist ein Weg zur Integration.
Tatjanas Emanzipation
Der blonde Kopf war über die Kasse gebeugt, reglos. Er blieb es den ganzen Abend über, bis das Lokal schloß. Von weitem erinnerte er an eine steinerne Büste, als hätte irgendein Bildhauer diesem gesichtslosen Schuppen namens Odessa ein wenig Grazie und Schönheit verleihen wollen. Wieso hatte eine pontusgriechische Flüchtlingsfamilie den Namen Odessa dem Odissos der Heimatvertriebenen vorgezogen? Vielleicht wußten sie nicht, daß Odessa auf griechisch Odissos hieß. Vielleicht sollte Odessa den Eindruck vermitteln, daß im Lokal russische Küche serviert wurde. Das zumindest stand außer Zweifel. In einer Zeit, da die Neugriechen Schweinekotelett durch Lendchen an Mispelmus mit Walnußstückchen und Makrele vom Grill durch Loup de mer in Ananas- und Orangenmarinade ersetzt hatten, servierte das Odessa echten russischen Borschtsch und klassischen russischen Salat, der nichts mit der in Griechenland geläufigen Variante zu tun hat, die in Imbißstuben mißbräuchlich auf Sandwiches gepinselt wird.
Vom Erscheinungsbild her war das Odessa ganz dem Lebensgefühl griechischer Billiglokale nachempfunden: Resopaltische, auf denen Papiertischdecken mit Waffelmuster und dem Aufdruck »Guten Appetit« lagen, und Brotkörbchen, die mit Besteck und Papierservietten garniert waren. An der Wand zur Linken hing der Nachdruck einer Gravur, die das Odessa des neunzehnten Jahrhunderts abbildete. Das übrige Bildprogramm bestand aus touristischen Fotoaufnahmen griechischer Inseln.
Und da war noch Tatjanas schöner, über die Kasse gebeugter Hals. Man hätte glauben können, sie lege es darauf an, die Aufmerksamkeit der männlichen Kundschaft zu erregen. Denn ihre totale Hingabe an die Welt der Zahlen hatte zur Folge, daß sich die Besucherzahl der Herrentoiletten, die sich neben der Kasse befanden, nahezu verdoppelte. Männer jeder Altersklasse defilierten an ihr vorüber und hofften, sie würde, von ihrer Ausstrahlung verführt, den Blick heben. Was sie erreichten, war einzig und allein, daß sich eine Schlange vor dem Eingang zu den Toiletten bildete.
Vielleicht hätten sie von ihren hoffnungslosen Bemühungen Abstand genommen, wenn sie den Grund für Tatjanas auf die Kasse gehefteten Blick erfahren hätten: die wachsamen Augen ihres Vaters. Das Odessa war ein Unternehmen der Familie Serchidis beziehungsweise Serchow, wie sie sich in der ehemaligen Sowjetunion genannt hatte. Maria, die Mutter, hatte die Küche übernommen. Die beiden Söhne, Vangelis und Iosif, kellnerten und Tatjana, der jüngste Sproß, saß an der Kasse. Der einzige, der nichts tat, war Vassilis, der Vater. Er hatte den Oberbefehl und die wachsamen Augen.
Als sie 1993 nach Griechenland gekommen waren, hatte Vassilis auch seine Haßliebe zum sowjetischen Regime mitgebracht: Eine Seite des sozialistischen Systems akzeptierte er, eine andere wies er mit angeekelter Miene von sich. »Die Partei und der Kreissekretär überwachen mich, ohne selbst etwas zu tun«, sagte er für gewöhnlich. »Ich beuge den Kopf, halte den Mund und arbeite, weil das System es so verlangt. Bei mir zu Hause aber bin ich die Partei. Dort überwache ich und tue nichts, während meine Frau und meine Kinder den Kopf beugen, den Mund halten und arbeiten.«
Das bildete für Vassilis die Seite des Systems, die er akzeptierte. Diejenige, die er ablehnte, betraf seine Tochter Tatjana. Als sie ihm erzählte, sie wolle Agrarökonomie studieren, verabreichte er ihr eine schallende Ohrfeige und schickte sie in die einzige Produktionseinheit, die ein Haushalt aufweist: in die Küche.
»Von diesem kommunistischen Gewäsch, daß alle jungen Männer und Frauen studieren müssen, halte ich nichts«, meinte er. »Bei uns werden die Mädchen erst mal Hausfrauen, bis man sie mit einem netten jungen Mann verheiratet.«
Marx unterstrich zwar, der Sozialismus würde den neuen
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