Balkan Blues
Kurzwarenhändler mit ausgestreckter Hand vor der Tür aufbaute.
»Mein Geld«, sagte er. »Wie soll ich dich denn finden, wenn du dich in Luft auflöst.«
»Kein Geld … geklaut …«
»Wem willst du den Bären aufbinden, du Hund? Ausgerechnet mich willst du verarschen?« Er wollte ihn am Hemd packen, doch sein Blick fiel auf die Blutflecken, und er ließ angewidert von ihm ab.
Der bosnische Serbe wandte ihm sein Gesicht zu. »Siehst du nix?«
»Weil du Prügel bezogen hast, willst du mich um mein Geld prellen, ja? Dir werd ich’s zeigen.«
Der Kurzwarenhändler rannte wie der Blitz aus der Tür und donnerte sie ihm ins Gesicht. Gleichzeitig hörte er, wie der Schlüssel im Schloß herumgedreht wurde.
»Du bleibst hier drin, bis die Polizei dich abholt«, rief er ihm von draußen zu.
Panik erfaßte den bosnischen Serben. Er begann gegen die Tür zu schlagen. »Gut, gut, geb dir Geld.«
Er dankte Gott, daß er in weiser Voraussicht nicht seine ganzen Tageseinnahmen in den Ranzen gesteckt, sondern sie auch auf seine Hemd- und Hosentaschen aufgeteilt hatte. Natürlich würde ihm auf diese Weise der Lohn eines ganzen Tages flöten gehen, aber das letzte, was er in seinem erbarmungswürdigen Zustand brauchte, war es, der Polizei in die Hände zu fallen.
Die Tür wurde aufgeschlossen, und die Hand des Kurzwarenhändlers langte nach dem Zehn-Euro-Schein.
»Hier bezahlt man seine Schulden«, rief er ihm zu. »Nicht so wie bei euch. Mit Brüssel könnt ihr es ja machen, ihr Blutsauger, aber nicht mit uns. Denkt nicht, ihr könntet euch benehmen wie zu Hause.«
Wortlos ging der bosnische Serbe an ihm vorbei nach draußen.
»Vassilis, warum tust du das?« sagte Milena auf serbisch. »Warum tust du so, als wärst du ein bosnischer Serbe, wo du doch Grieche bist?«
Er antwortete nicht. Er bedeckte sein Gesicht mit einem in eiskaltes Wasser getauchten Handtuch. Er fühlte sich ausgelaugt und war es leid, jedesmal dasselbe zu erklären.
»Gut, ich war Französischlehrerin in Sarajevo, und jetzt putze ich die Rezeption und die Toiletten im Le Mirage . Das ist logisch so. Dich aber verstehe ich nicht. In Bosnien warst du ein Grieche, und in Griechenland bist du ein Bosnier.«
Er stand auf, um das Handtuch erneut zu kühlen. So brauchte er nicht zu antworten. Die Diskussion war ohnehin sinnlos. Ihr Leben war anders geplant gewesen, als es schließlich gekommen war. Das war alles. Nachdem er zweimal bei den Aufnahmeprüfungen zu einer griechischen Universität durchgefallen war, hatte er in Sarajevo Chemie studiert. Dort lernte er Milena kennen. Sie war ein wenig älter als er und hatte ihr Französisch-Studium gerade beendet. Vassilis’ Mutter war während seines Aufenthalts in Sarajevo gestorben, und andere Verwandte hatte er nicht. So wurde er ein Teil von Milenas Familie. Nach drei Monaten zogen sie zusammen: Vassilis, Milena und die Familie ihres Bruders, der Schmied war. Während des Kriegs schloß die Universität, niemand lernte mehr Französisch, auch wurden keine neuen Häuser mehr gebaut, sondern die alten zerstört. Vassilis war der Rettungsanker, der ihnen verblieben war. Sie packten ihre Sachen und kamen nach Griechenland.
Hier lagen die Dinge nun ganz anders. Er war hier zu Hause, und alle blickten erwartungsvoll auf ihn. Er begann, Arbeit in einem Labor oder einem Industriebetrieb zu suchen. Jedesmal, wenn man ihm die Tür vor der Nase zuschlug, rutschte er eine Stufe auf der sozialen Leiter nach unten. Als ihm bewußt wurde, daß er nur als Hilfsarbeiter eine Chance hatte, geriet er in Panik und begann, gleich drei Stufen auf einmal hinunterzustürzen. Schließlich bewarb er sich beim Bau, doch auch dort wollte man ihn nicht. Die ausländischen Arbeitskräfte waren kräftiger, arbeiteten zum halben Lohn und machten unbezahlte Überstunden dazu. Er war zart gebaut und Grieche, er konnte sie wegen der unbezahlten Überstunden und der unterschlagenen Sozialversicherung anzeigen und vor Gericht bringen.
Aufs Betteln kam er durch Zufall, durch eine Ironie des Schicksals. Am Tag, als auch die letzte Tür vor ihm zugeschlagen wurde, packte er wütend ein Stück Pappe und schrieb darauf: »Ich bin bosnischer Serbe, ich habe Hunger.« Dann hängte er sich das Schild mit einem Bindfaden um den Hals und setzte sich auf den Boden. Er wollte den Griechen zeigen, daß einer von ihnen im eigenen Land zum bosnischen Serben werden konnte. Er wollte sie beschämen und sich selbst für seine Unfähigkeit, Arbeit
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