Ballade der Leidenschaft
mit breiten, muskulösen Schultern und schmaler Taille.
Ein Arm hing über den Pritschenrand zum Boden hinab, und Rozenn musterte die Hand, die sie so gut kannte, die schmalen, entspannten Musikerfinger. Plötzlich wollte sie Ben berühren.
Wie albern … Anscheinend hatte sie ihn schmerzlicher vermisst, als es ihr bewusst gewesen war. Ihr Blick schweifte zu dem zerknitterten Umhang hinab, der seine Taille umgab, zu den Rundungen der darunter verborgenen Hinterbacken und schließlich zu den herausragenden nackten Füßen. Wenn Ben auch kein Krieger war, kein Sir Richard of Asculf, wirkte sein Körper erstaunlich kraftvoll. Er glich den Akrobaten und Tänzern, die letzten Monat die Burg besucht hatten. Natürlich – wie sie sich entsann, konnte er artistische Kunststücke vollbringen und tanzen wie die besten dieser Künstler.
Sie schluckte. In ihrem Bauch entstand ein besorgniserregendes Gefühl, eine heiße Sehnsucht. Entschlossen schüttelte sie den Kopf und schlug ihr Laken zurück. Nein, keine Sehnsucht. So etwas verspürte sie nicht, wenn sie Ben anschaute. Sie, Rozenn, die ihre erste Ehe aus praktischen Erwägungen eingegangen war und zum zweiten Mal aus ehrgeizigen Gründen heiraten würde, so wie Comtesse Muriel, sehnte sich nicht nach Männern. Sie freute sich einfach nur, weil sie einen lieben Freund wiedersah.
Mittlerweile war der Hahn verstummt. Aber die Ringeltauben gurrten, und über der Stadt flogen die Mauerschwalben …
Rozenn kroch aus dem Bett. Hastig schürte sie die Aschenglut im Herd, legte Holz nach und setzte etwas Wasser vom Vortag auf, um sich zu waschen. Dann streifte sie sich ein Kleid über den Kopf – ein neues, das sie letzten Monat aus dem besten blauen Leinen im Laden genäht hatte. Auf leisen Sohlen verließ sie das Haus, eilte zum Brunnen hinab und holte Wasser. In der Taverne kaufte sie Mikaela einen ofenwarmen Brotlaib ab. Von Bens Ankunft erzählte sie der Freundin nichts, denn sie hatte sich bereits verspätet. Für langwierige Erklärungen fehlte ihr die Zeit. Zu Hause lag noch ein halber Laib in einer Schüssel. Aber Ben würde frisch gebackenes Brot gewiss vorziehen.
Wieder daheim, ordnete sie das Brot, ein Stück Ziegenkäse und zwei Äpfel auf einer Platte an. Dann nahm sie Pers Hausschlüssel aus der Geldkassette und legte ihn neben das Frühstück. Da würde Ben ihn sicher finden.
Ihre Arbeitstasche in der Hand, schlich sie aus dem Haus. Die Schwalben zogen ihre Kreise und schnappten nach Fliegen. Vor Rozenn schob der junge Anton seinen Karren den Hang hinab. Nun musste sie sich sputen, sonst würde sie Comtesse Muriels Zorn erregen.
Als Rozenn das Sonnengemach betrat, wanderte die Gräfin vor dem Herdfeuer hin und her. Tag und Nacht, im Winter und im Sommer, musste es unentwegt brennen, darauf bestand die Comtesse. Der Wandteppich lag noch immer zusammengerollt in seiner Schutzhülle an einem Ende des langen Tisches. Auf der Fensterbank saßen mehrere Damen und unterhielten sich leise.
Von üppigen, raschelnden Röcken umweht, fuhr Comtesse Muriel herum. „Da bist du ja endlich, Rozenn!“
Die schlanke Frau mit schmalen Schultern überragte trotz ihres zierlichen Körperbaus die meisten Männer. Ihr gebieterisches Wesen konnte einschüchternd wirken. Aber Rozenn ließ sich keine Angst einjagen. Den Kopf in den Nacken gelegt, hielt sie dem durchdringenden Blick der Gräfin stand. „Guten Morgen, Comtesse“, grüßte sie und fragte sich, warum die Frauen nicht schon in ihrer Abwesenheit zu sticken begonnen hatten.
Dann stellte sie ihre Arbeitstasche auf den Tisch und begann den Wandteppich zu entrollen. Mochte die Aristokratin sie auch herumkommandieren – ihren Gedanken konnte sie keine Befehle erteilen. An diesem Tag jubelte ihr Herz, und ihr Glück besiegte den Groll über Comtesse Muriels Ungeduld. Zweifellos, weil sie demnächst abreisen würde …
Irritiert hob die Gräfin eine Hand. „Nein, warte!“
Rozenns Hände erstarrten auf dem Leinenballen. So bald wie möglich musste sie der Comtesse ihre Absicht mitteilen, Quimperlé zu verlassen. Seltsam – das erschreckte sie nicht mehr so sehr wie letzte Woche. Nur mit halbem Ohr hörte sie, was gesprochen wurde, und überlegte, welcher Moment sich am besten für die Mitteilung eignen würde. Vielleicht sollte sie bis nach dem Markttag warten, dann würde sie genug Geld besitzen, um Pers Schulden zu begleichen …
„Hörst du nicht zu, Rozenn?“ Die dunklen Brauen der Gräfin zogen sich
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