Ballade der Liebe
war ein schwindelerregender Gedanke, auf derselben Bühne zu stehen wie ihre Mutter – was nicht ganz richtig war, denn das damalige Theater, in dem ihre Mutter gesungen hatte, war einer Feuersbrunst zum Opfer gefallen. War es wirklich ihre Bestimmung, den Weg ihrer Mutter zu gehen, die Träume zu verwirklichen, die ihre Mutter im Herzen getragen hatte, bis die Geburt ihres Kindes ihre Ziele durchkreuzte und sie schließlich krank wurde?
„Was wäre Ihnen lieber?“, stellte sie ihm die Gegenfrage, um den Gedanken nicht vertiefen zu müssen.
Flynn zögerte nicht. „Vauxhall.“
Erstaunt zog sie die Brauen hoch.
„Die Oper ist natürlich etwas Grandioses, ein glanzvolles Ereignis“, erklärte er. „Aber für mich gibt es nichts Schöneres, als Sie in Vauxhall singen zu hören.“
Eine beseligende Wärme breitete sich in ihr aus, die anhielt, bis die Kutsche vor ihrem Haus zum Stehen kam und Flynn sie hinauf zur Wohnungstür begleitete.
Dort drehte sie sich ihm zu, streckte ihm die Hand entgegen, um die Grenzen zu wahren, die er zwischen ihnen errichtet hatte. „Vielen Dank, Flynn.“
Im halbdunklen Stiegenhaus zog er Rose in seine Arme, wo sie sich so unendlich geborgen fühlte.
Er küsste sie, lang, innig und ausgehungert wie ein Mann, der nach langer entbehrungsreicher Irrfahrt endlich heimkehrt.
Tanner hatte es sich in einem bequemen lederbezogenen Clubsessel bei White’s gemütlich gemacht, nippte an einem Glas Brandy und überflog in Gedanken die Gewinne, die er beim Whist eingesteckt hatte. Vergeblich. Er konnte sich nicht erinnern, wie hoch sein Einsatz zu Beginn gewesen war, wie viele Schuldscheine er ausgestellt und wieder zerrissen hatte und welchen Gewinn das letzte gute Blatt ihm gebracht hatte. Er wollte sich damit begnügen, den Kartentisch mit einem Plus verlassen zu haben. Das Rechnen wollte er Flynn überlassen.
Die Tür wurde aufgerissen, und eine wütende Stimme rief schneidend: „Wo ist Tannerton?“
Der Marquess machte ein zufriedenes Gesicht. Er hatte sich schon gefragt, wie lange es dauern würde, bis der aufgebrachte Verlierer nach ihm suchen würde, blieb seelenruhig sitzen und malte sich aus, wie er durchs Café und durchs Billardzimmer fegte, die Tür zum Erfrischungsraum aufriss und seinen Namen brüllte. Tanner summte vor sich hin, schlug die Beine übereinander und drehte sich in die Richtung, aus der er den Rasenden erwartete.
Tanner ertappte sich dabei, wie er die Melodie summte, die Rose im Gesangsunterricht endlos lange wiederholen musste, bis er glaubte, verrückt zu werden. Und jetzt ging ihm der verflixte Ohrwurm nicht mehr aus dem Sinn. Nein, noch eine Gesangsstunde würde er sich auf keinen Fall antun. Flynn, der offenbar tatsächlich Gefallen an dieser Musik fand, sollte sie begleiten. Trinklieder, wie sie in verräucherten Schankstuben von angetrunkenen Männern gegrölt wurden, waren schon eher nach Tanners Geschmack.
Es dauerte nicht lange, und der Wüterich marschierte wieder herein, packte einen Diener am Schlafittchen und brüllte: „Wo ist Lord Tannerton?“
Der gute Mann nickte in seine Richtung. „Da drüben sitzt er, M’lord.“
Grüßend hob Tanner sein Glas.
Greythorne starrte ihn finster an und stieß den Diener beiseite.
„Kommen Sie, um ein Spielchen zu wagen?“, fragte Tanner liebenswürdig, „oder hatten Sie einen schlechten Tag?“
„Ich suche Sie, das wissen Sie genau.“ Greythornes Gesicht hatte ein ungesunde Röte angenommen.
„Aha! Ich bin ein erbärmlich schlechter Gedankenleser, fürchte ich.“ Tanner wies auf den zweiten Clubsessel. „Da Sie mich nun gefunden haben, setzen Sie sich und erzählen Sie mir, was ich für Sie tun kann.“
Greythorne zögerte und hielt es offenbar nicht für angebracht, seinem Rivalen so viel Ehre zu erweisen. Schließlich nahm er dann doch Platz.
„Wenn Sie sich etwas gedulden, organisieren wir Ihnen einen Brandy.“ Tanner blickte sich suchend um, doch der Diener war nicht mehr zu sehen. „Oder ein Glas Bier vielleicht?“
„Lassen Sie das“, knurrte Greythorne.
„Keinen Durst?“ Tanner gab sich überrascht.
Der Earl durchbohrte ihn mit giftigen Blicken. „Sie spielen ein schmutziges Spiel, Tannerton.“
„Wollen Sie mich etwa beschuldigen, beim Kartenspiel zu mogeln?“, entrüstete dieser sich. „Das würde ich Ihnen nicht raten, sonst sehe ich mich gezwungen, Sie zu fordern, obwohl ich nicht den Wunsch habe, Sie zu töten.“ Nach kurzem Überlegen korrigierte er sich.
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