Ballast oder Eva lernt fliegen
so verwöhnten Füße rebellierten. Wenn es einen Weg gab, den charmanten Herzensbrecher an sie zu binden, so musste sie ihn jenseits der ausgetretenen Pfade modischer Verhüllungskünste suchen.
Ein Kampf entbrannte in Eva. Er war heftig, doch von kurzer Dauer. So sehr sie diese Kleidungsstücke immer geliebt hatte, all der Energie, der Zeit und des Geldes zum Trotz, die sie in ihre Garderobe investiert hatte: Die gegnerische Seite trug bald schon den Sieg davon, denn sie verfügte über die ungleich stärkere Streitmacht. An vorderster Front die beiden Offiziere: Bernd Liebig mit seinem Schlachtruf, weniger Verpackung verspräche mehr Inhalt, und Ariane, gegen deren schwere Geschütze kein Halten war: Eva sei ein Genie, eine Märtyrerin, eine Hohepriesterin der Frauenbefreiung. Selbst das Fußvolk kämpfte mit Überzeugung: Ihre Zehen, die neuerdings gegen elegante Schuhe protestierten, ihr Haar, das sich ohne all die Styling-Produkte herrlich seidig anfühlte, ihr Körper, der die veränderte Lebensweise spürbar genoss... Selbst an den Anblick ihrer Köperhaare hatte Eva sich inzwischen fast gewöhnt. Die Nachwachs-Stoppel-Phase war glücklicherweise abgeschlossen, so dass sie der Aussicht, im Sommer Bein und Achseln zu zeigen, halbwegs gefasst ins Auge blickte. Halbwegs. Die zögerliche Verstärkung konnte Evas Verteidigung kaum neuen Elan verleihen. Generalin Ariane blies unerschütterlich zum Angriff und führte so die Niederlage herbei.
Natürlich sah Eva ein, dass ihre Freundin recht hatte: Sie brauchte all das nicht. Die vergangenen Wochen hatten ihr bewiesen, dass ihre natürliche Schönheit keinerlei Unterstützung benötigte.
Es war ein Flashback. Die Euphorie der ersten Wochen nach ihrem Badezimmer-Großputz kam zurück, unvermittelt und mit reißender Wucht. Ariane konnte nur still stehen und ehrfürchtig Evas in Aufruhr geratenes Mienenspiel beobachten. Volle acht Minuten blieb Eva unerreichbar. Als sie aus ihrem orgiastischen Rausch auftauchte, wusste sie was zu tun war. Dies war die Geburtsstunde ihrer zweiten großen Liste.
Es wurde eine sehr, sehr lange Liste. Eva war gnadenlos. Jede einzelne Bluse, jede Feinstrumpfhose, die nicht für würdig befunden wurde, sie in ihr neues Leben zu begleiten; jeder Gürtel und jedes Paar Schuhe, ja: jedes einzelne Accessoire bekam seinen Eintrag, wurde Zeile einer nicht enden wollenden Liste. Nach kaum zwei Dritteln musste Ariane, die sich, unvorsichtig in ihrer Begeisterung, als Protokollantin angeboten hatte, die Fahnen streichen. Um der erschöpften Freundin Stärkung und Erholung zu gönnen, unterbrachen sie ihren Feldzug. Eva selbst brachte vor Aufregung keinen Bissen herunter. Vermutlich das erste Mal in ihrem Leben, doch es sollte nicht das letzte Mal bleiben. Schon bald ließ sie Ariane am Tisch zurück, um sich wieder an die Arbeit zu machen. Diesmal schrieb sie selbst.
Lange nachdem Ariane schlaftrunken ins Auto gestiegen war, wandelte Eva freudetrunken durch ihr Reich. Jede ehemals freie Fläche war bedeckt mit gewissenhaft erfassten Kleidungsstücken, Schuhen, Sonnenbrillen und Hüten. Halsketten ruhten schlangengleich auf Seidentüchern. Gürtel waren fein säuberlich aufgerollt. Beim Abtippen der handgeschriebenen Liste hatte Eva sich freigemacht von jedem einzelnen Stück. Sie waren zu Listeneinträgen geworden, unpersönliche schwarze Zeichen auf weißem Grund.
Auf dem Esstisch stapelten sich Hand- und Umhängetaschen zu einem Ehrfurcht gebietenden Berg. Sie waren ihr entfremdet, gehörten ihrem Leben nicht mehr an. Eva nahm eine Segeltuchtasche, besah sie neugierig von allen Seiten, öffnete den Reißverschluss und ließ ihre Finger in die Fächer gleiten. Seltsame, anrührende Dinge kamen zum Vorschein: Eintrittskarten für den Zoo, vor Jahren abgelaufene Zahnpflege-Kaugummis. Ein in einer Seitentasche festklebendes Halsbonbon. Eine Postkarte, die sie vor drei Jahren aufzugeben vergessen hatte. Sie zeigte ein Hotel, in dem sie mit ihrem Sohn zwei Wochen verbracht hatte: ihr letzter gemeinsamer Urlaub. Eva legte sie beiseite und griff noch einmal in die Tasche. Und hielt einen Kieselstein in der Hand.
Sie schloss die Finger um den Stein. Langsam erwärmte er sich in ihrer Hand. Jahrelang hatte sie ihn stets bei sich getragen, dann hatte sie vergessen, dass es ihn gab. Verwundert spürte sie, wie ihre Augen zu brennen begannen und ein vergessenes Gefühl ihr die Kehle zuschnürte. Christian war vier Jahre alt gewesen, als er ihr diesen
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