Ballast oder Eva lernt fliegen
Stein zum Muttertag geschenkt hatte, überzeugt, dass es kein wertvolleres Geschenk geben könne. Es war sein Glücksstein gewesen, dann war es ihrer. Damals war Christians Vater noch nicht unter die Kängurus gegangen. Eva seufzte, steckte den Stein in ihre Lieblingshandtasche, die einzige, die sie für sich behalten wollte, stopfte alle anderen Fundstücke in den Müll und ging zu Bett.
Mit keinem Wort brauchte Eva ihre neueste Heldentat zu erwähnen. Das übernahm ihre Freundin Ariane. Innerhalb kürzester Zeit schwoll die Schar der Bewunderer so sehr an, dass die kleine Betriebssporthalle aus allen Nähten platzte. Es tauchten Menschen auf, die dort nichts zu suchen hatten (außer Erleuchtung durch Eva), und sie verstopften die Halle derart, dass an irgendwelche sportlichen Betätigungen gar nicht mehr zu denken war. Zunächst waren es Angehörige und Freunde, die irgendwer mitgebracht hatte, doch immer öfter erblickte Eva Fremde, die niemand zu kennen schien. Sie suchten sich meist Plätze in der Nähe der Tür und versuchten, nicht aufzufallen, wodurch sie sogleich die Aufmerksamkeit aller anderen auf sich zogen.
Eva, vertrauend auf ihren Instinkt für wirkungsvolle Auftritte, gewöhnte sich an, etwas zu spät zu kommen. Wenn sie die überfüllte Halle betrat und sich aller Augen auf sie richteten, ballte sich heiße Energie in ihrem Solar Plexus und eine wohlige Gänsehaut rieselte vom Nacken hinab über ihren Körper. Eva tauchte in die ehrerbietig ausweichende Menge ein und suchte sich einen Platz an einer der Wände, wo sie ihre Yogamatte ausrollte. Dann begann sie, sich zu räkeln und zu strecken. Alle räkelten und streckten sich, selbst Neulinge. Letztere mit verlegenen Blicken nach links und rechts. Eva setzte sich in den Lotossitz. Alle setzten sich, wenn auch weniger elegant. Auch waren die wenigsten gelenkig genug, um ihre Haltung nachzuahmen. Dann herrschte erwartungsvolle Stille. Eva schloss die Augen und meditierte. Nur wenige Minuten, doch in dieser kurzen Zeitspanne versenkte sie sich ganz in ihre Meditation. Kein Vergleich zu ihrer Aktiv-Stillhalte-Phase von früher. Danach schlug Eva ihre Augen auf, lächelte und ließ ihren Blick schweifen. Sie sah den Anwesenden offen in die Augen. Es war keine Schauspielerei, Eva war neugierig, wer gekommen war und wer diesmal eine Frage stellen würde. Immer war es dieser intensive Blickkontakt, der jemanden zum Sprechen ermutigte.
Es war ein Ritual und weil es sich von selbst, gänzlich ungeplant, entwickelt hatte, war es echt. Und es funktionierte. Eva spürte, dass es gut und richtig war. Doch die stetig anschwellende Anhängerschar füllte die Halle bald bis auf den letzten Zentimeter. Eva versuchte, ihren Bewunderern gerecht zu werden, indem sie ihre Yogamatte nie zweimal an derselben Stelle ausbreitete, und sie gewöhnte sich an, die oft sehr leise gestellten Fragen laut mit ihrer volltönenden Stimme zu wiederholen, um alle daran teilhaben zu lassen. Doch es war klar, dass es so nicht weitergehen konnte.
Die Lösung des Dilemmas fand Ariane in Gestalt einer Frau, die Gymnastikkurse für den größten Turnverein der Stadt anbot und sich bereit erklärte, mit dem Vereinsvorstand zu sprechen. Wenige Wochen später stand der Personalchef in der verwaisten Betriebssporthalle und sah ratlos ins Leere. Er kam mit der Ausrede, einmal nach dem Rechten sehen zu müssen, und mit der Hoffnung, nach dem Betriebssport unter vier Augen mit Eva über die Depressionen seiner Frau sprechen zu können. Doch deren Audienzen fanden inzwischen in einer weitläufigeren Sporthalle statt und wurden begleitet von einem kurzen Yoga-Programm, das die Gymnastiktrainerin beisteuerte. Zu diesem Zeitpunkt erschien der erste Zeitungsbericht über Eva Idengart.
Während Evas Ruhm den Schritt von der Mund-zu-Mund-Propaganda in die Medien schaffte, verbuchte sie auch privat Erfolge. Bernd unterstützte sie begeistert bei ihrer Abkehr von der glamourösen Welt der Mode und ließ keinerlei Zweifel aufkommen, wie sehr er Eva begehrte. Diese fühlte sich in Arianes Schuld, die Kleiderliste wäre ohne das Auftauchen ihrer Freundin nie zustande gekommen. Und so trachtete Eva, als Dank für Arianes Unterstützung und Bewunderung, aber auch um ihrem wachsenden Ruf als Ratgeberin in allen Lebensfragen gerecht zu werden, auch Ariane zu privatem Glück zu verhelfen.
Auf ihrem Entsorgungstrip durch die Second-Hand-Szene der Stadt hatten die beiden Freundinnen in Arianes Stammladen
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