Ballast oder Eva lernt fliegen
gebaut, neunhundertsechzig davon in einer Höhe von über viertausend Metern, und die Hälfte der Strecke ist Permafrostboden! Das ist die höchstgelegene Bahnstrecke der Erde, mit dem höchstgelegenen Bahnhof, über fünftausend Meter, das muss man sich mal bewusst machen. Der höchste Tunnel liegt bei viertausendneunhundert Metern! Wir vier hätten in solchen Höhen nicht mal genug Power, um eine Sandburg zu bauen! Und dann das Problem mit dem Permafrostboden. Jedes Jahr taut er für kurze Zeit auf und sackt ab. Was machen diese Chinesen also? Sie kühlen den Himalaya! Zehntausend Kühlstäbe haben sie in den Boden getrieben!“
„ Und bereits einen Monat nach der Eröffnung der Bahnstrecke musste das chinesische Eisenbahnministerium zugeben, dass der Boden an manchen Stellen eben doch absinkt und sich bereits die ersten Risse zeigen“, warf Heinrich ein.
„ Die Chinesen haben ein Eisenbahnministerium?“, fragte Ariane verwundert.
Bernd verdrehte gereizt die Augen. „Dass bei einem solchen Projekt nachgebessert werden muss, ist ja wohl selbst-verständlich. Die Qinghai-Tibet-Bahn wird mit der Chinesischen Mauer und dem Drei-Schluchten-Damm verglichen!“
„Stimmt, auf den Staudamm sind sie ja auch mächtig stolz“, bemerkte Heinrich trocken.
Eva betrachtete ihn neugierig. Es war ungewöhnlich, dass Heinrich dem großspurigen Bernd so in die Parade fiel. Seine Abneigung gegen Chinas Tibet-Politik musste schon sehr groß sein, oder er hatte sich in Evas Abwesenheit verändert. Ja, wenn sie jetzt so darüber nachdachte: Er hatte an Selbstsicherheit gewonnen. Ganz im Gegensatz zu Ariane, die die ihre verloren zu haben schien.
Die streitenden Männer waren verstummt und funkelten sich wütend an. Ariane sah hilflos Eva an, die seufzend das Lächeln auf ihr Gesicht zurück zauberte. „Möchtest du denn gerne wissen, wie es nach Lhasa weiterging?“
Ariane nickte heftig.
„Ach ja, die Reisegruppe!“ Bernd schnaubte verächtlich. „Eva und so ein blonder Kerl, der sie natürlich gleich anmachen musste. Das war die ganze Gruppe. Eigentlich hätte ich dir das gar nicht erlauben sollen.“
„ Und noch dazu von dir gebucht und bezahlt“, erwiderte Eva mit mitleidigem Lächeln. „Das war das schönste Geschenk meines Lebens. Du hättest mitfahren sollen!“
„ Und die Konferenz sausen lassen? Ohne die hätten wir so kurzfristig gar keine Permits für Tibet bekommen! Hast du mich denn wenigstens vermisst?“
„ Sehr!“, versicherte Eva nicht ganz wahrheitsgetreu und streichelte Bernd die Wange. Dann endlich erzählte sie von der fünftägigen Reise im Jeep durch den Himalaya, von majestätischen Gipfeln, die plötzlich aus dem Wolkenmeer auftauchten und von weiten Hochebenen, in denen sie sich winzig und unbedeutend gefühlt hatte. Von der Höhenkrankheit und den Sauerstoff-Flaschen und dem Gefühl, dass die Zeit sich auflöste. Davon, dass sie schon am zweiten Tag den Versuch aufgegeben hatte, die Wunder auf ihrer kleinen Digicam aufzuzeichnen.
Nun stellte sie fest, dass sie sich auch nicht in Worte fassen ließen. „Man lernt, die Welt mit anderen Augen zu sehen auf dieser Fahrt. Himmel und Hölle, man durchlebt beides in diesen fünf Tagen. Es war gut so, denn als wir in Kathmandu ankamen war ich gereinigt. Nein: Leer. Bereit, die Weisheiten der buddhistischen Mönche in mich aufzunehmen.“
Während Heinrich mit dem Backblech in der Küche verschwand, zauberte Ariane einen großen Umschlag hervor und reichte ihn Eva. „Mein Geschenk für dich.“ Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen und kaute an ihren Lippen.
Eva drehte das Kuvert hin und her und sah fragend Ariane an. Die Aufregung der Freundin wollte nicht so recht zu dem nüchternen Briefumschlag passen. Neugierig riss Eva ihn auf, zog einige Papiere heraus und begann zu lesen.
Fassungslos starrte sie auf die Zeilen, die bald schon vor ihren Augen zu tanzen begannen. Nur dunkel nahm sie wahr, wie still es im Raum geworden war. Selbst der Gesang der Mönche war verstummt. Dann spürte Eva plötzlich Bernd hinter sich, der einen Blick über ihre Schulter zu werfen versuchte, doch sie war noch nicht bereit, die Neuigkeit mit ihm zu teilen und entzog sich ihm. Sein unterdrücktes Fluchen machte ihr bewusst, wie ernst und angespannt sie aussehen musste. Tief Luft holend sah sie auf und entdeckte, dass Ariane sich die Lippen blutig gebissen hatte. Heinrich hielt sie umschlungen, als müsse er sie beschützen. Und neben den beiden
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