Ballast oder Eva lernt fliegen
zu entspannen. Die brauchen nur diejenigen, die damit ihr Geld verdienen. All das Zeug hilft nicht, im Gegenteil: Es lenkt nur ab. Wenn ihr euch wirklich entspannen wollt, so braucht ihr nur euch selbst dazu. Sonst nichts.“
Es war dies Eva Idengarts erste Erleuchtung. Wir sehen sie stark und voller Energie. Sie weiß – wir wissen nun – dass sie einen Auftrag hat. Was meinen Sie: War es Schicksal oder doch nur dummer Zufall, was sie bis hierher führte? Evas Pläne sahen anders aus, wir wissen es. Sie wollte die Ehe und wurde Ikone. Nun ist sie bedeutend, die Leute kommen zu ihr und sie kommen zu recht: Eva gibt ihnen, was sie suchen.
Spielt es da wirklich eine Rolle, dass es pure Erschöpfung war, die sie einschlafen ließ, am Vorabend, in ihrer Badewanne?
ZWEI
Wir sollten so leben, wie man ein Feuer unterhält. Versuche, jeden Tag eine große Idee nachzulegen.
Drukpa Rinpoche
Eva ließ sich in einer fließenden Bewegung in den Lotossitz nieder, ordnete die Falten ihres weißen Qi-Gong-Anzugs und drapierte die losen Enden des Seidenschals, der ihr als Gürtel diente, über Schoß und Schenkel. Dann atmete sie tief ein, um ihren Brustkorb zu weiten und den Scheitel noch ein kleines bisschen mehr anzuheben, legte eine Hand zum Kelch geformt in ihren Schoß und ließ die Finger der flachen anderen wie unabsichtlich gen Boden weisen. Sie ließ den Blick über ihr kleines Reich schweifen. Was sie sah, gefiel ihr. Es war der Tag ihres einundvierzigsten Geburtstages und sie hatte sich niemals besser gefühlt.
Die Idee, auf dem Boden sitzend zu essen, hatte sie aus Kathmandu mitgebracht. Gemeinsam mit Bernd hatte sie am Vormittag alle Möbel aus dem Wohnzimmer entfernt oder an die Wand gerückt und mit großen Tüchern verhüllt. Die ausgehängte, mit Bücherstapeln unterlegte Zimmertür diente als Tisch, Kissen ersetzten die Stühle. Aus der Stereo-Anlage brummte der Gesang tibetischer Tempelmönche und eine einzelne Calla diente als Tisch- beziehungsweise Bodenschmuck. Der Raum hatte unglaublich an Ruhe und Weite gewonnen. Eva gefiel das, es versetzte sie zu ihren Mönchen zurück und verwandelte ihren Jetlag in eine Art meditative Schwingung.
Heinrich erschien mit leicht beschlagener Brille im Türrahmen und wischte sich, von einem Fuß auf den anderen tretend, die Hände an seiner Schürze ab. „Eine kleine Viertelstunde noch. Vielleicht sollten wir schon mal mit dem Aperitif...“
„ Schon dabei!“, tönte es von Bernd, der Eva gegenüber kauerte und heißen Pflaumenwein in Tassen goss, die zu einem Puppenservice hätten gehören können. „Nun mach kein so unglückliches Gesicht!“, fügte er mit breitem Grinsen und ohne aufzublicken hinzu. „Deinen Prosecco können wir nachher immer noch trinken. Außerdem liebt Eva Pflaumenwein!“
Heinrich hob die Augenbrauen und tauschte einen Blick mit Ariane, die die Augen verdrehte.
Eva senkte den Kopf, um ihr Schmunzeln zu verbergen. Der gute Bernd gab sich solche Mühe! Kaum vierzehn Tage waren sie getrennt gewesen, eine nichtige Zeitspanne, da sie sich auch sonst fast nur an Wochenenden sahen. Doch Bernd wich ihr kaum von der Seite, verschlang sie mit Blicken, versuchte ihr jeden Wunsch von den Augen zu lesen, seit er sie vor dreißig Stunden vom Flughafen abgeholt hatte. Für intime Zärtlichkeiten war Eva zu müde gewesen, und eben hier vermutete sie den wahren Grund für Bernds Übereifer: Ihr heißblütiger Liebhaber stand unter Druck. Die gemeinsame Woche in China, ihre erste wirklich gemeinsam verbrachte Woche, schien seine Lust auf sie ins Grenzenlose gesteigert zu haben. Und danach: Zwei ganze, lange Wochen Enthaltsamkeit. Nicht einmal Telefonsex oder hot mails waren möglich gewesen, denn Eva hatte der Himalaya geschluckt.
In einer raschen Bewegung stand sie auf, um das zwerchfellkitzelnde Bild des einsamen Libidogeplagten aus ihrem Kopf zu verscheuchen, ging zur Musikanlage und stellte die Mönche etwas leiser. Als sie sich ihren Freunden wieder zuwandte, waren ihre Gedanken und ihr Lächeln entspannt und rein.
Ächzend arbeitete Bernd sich aus der Hocke hoch und bot ihr eine der winzigen Tassen an: „Heiß und süß wie meine Herzensdame!“
Eva nahm sie lächelnd entgegen. Er hatte recht: Sie liebte Pflaumenwein und auch die niedlichen, blauweißen Fingerhüte, aus denen er getrunken wurde. Sie liebte auch den Qi-Gong-Anzug, den Bernd ihr in Chengdu gekauft hatte, und die bestickten Seidenpantoffeln. Selbst den Schal, den sie um die
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