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Ballast oder Eva lernt fliegen

Ballast oder Eva lernt fliegen

Titel: Ballast oder Eva lernt fliegen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mona Jeuk
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bemerken, dass sie ihren Toast kaum anrührte, den Kaffee kalt werden ließ und ihre unruhigen Hände unter dem Tisch verbarg.
    „Tut mir schrecklich leid“, versicherte er, den Mund voller Eigelb, „dass ich schon wieder weg muss!“
    „ Macht doch nichts!“, erwiderte Eva gedankenlos. Bernd hielt im Kauen inne und sah sie vorwurfsvoll an.
    Als er aufbrach schmollte er noch immer. Eva hatte nicht den Nerv, sein beleidigtes Ego zu tätscheln. Fünf Tage würde er diesmal weg sein. Kaum genug Zeit für ihre Pläne. Die Wohnungstür fiel im selben Augenblick ins Schloss, in dem sie das Branchenbuch aus dem Regal zog. Bereits beim Aufschlagen fühlte sie das Kribbeln unter der Kopfhaut. Beim vierten Anruf hatte sie Erfolg: Eine verrauchte Männerstimme versprach, noch am selben Nachmittag mit einem Siebenkommafünftonner vorzufahren.
    Zwei Tage Urlaub blieben Eva noch. Nicht, wie ursprünglich vorgesehen, um sich vom Jetlag zu erholen, sondern für die größte Entrümpelung ihres Lebens. Sie fuhr los, um unzählige Umzugskartons zu kaufen. Während sie auf den Lastwagen wartete, arbeitete sie an ihrer dritten Liste. Als es klingelte, war sie mit dem Wohnzimmer fertig. Leere Schränke, volle Kisten, Tisch und Stühle warteten auf den Abtransport.
    Während fremde Männer die ersten Möbelstücke aus der Wohnung trugen, ließ Eva ihren Blick durch das Wohnzimmer gleiten, das sich in ihrer Vorstellung wie eine Striptease-Tänzerin Stück um Stück entblößte. Plötzlich hatte sie eine Vision: Der fast leere Raum erstrahlte in warmen Erd- und Orangetönen und einfache, ungefärbte Baumwolltücher bauschten sich vor den offenen Fenstern. Kathmandu, dachte Eva. Sie würde ihren eigenen, kleinen Tempel errichten. In ihrer Dreizimmerwohnung. Einen Tempel der Freiheit. Ohne Lifestyle, Konsumzwang und Deko-Wahn. Das absolute Sein.

    Am Dienstagabend fühlte Eva sich so leer wie ihre Wohnung. Ihre dritte Liste umfasste vierzehn Seiten und hinterließ Abdrücke an Wänden und Boden und eine Unmenge an Schmutz und Staub.

    Am Mittwoch ging sie wieder arbeiten. Da sie zu keiner Konzentration mehr fähig war, verbrachte sie die Stunden am Empfang im Schwebezustand. Sie lächelte freundlich und erledigte Routineaufgaben, ohne sich dessen bewusst zu sein. Ariane erzählte ihr mittags in der Kantine, wie sehr alle ihre gelassene Anmut und Bedächtigkeit bewunderten und fügte selbst hinzu, Eva habe so einen verklärten Blick, seit sie von ihrer Reise zurück sei. Eva starrte sie mit glasigen Augen an und verbarg hinter einem Lächeln, dass sie keine Ahnung hatte, wovon ihre Freundin redete.
    Der Abendkurs, der erste seit vier Wochen, war berstend voll. Als Eva die volle Halle betrat und in die sich ehrerbietig öffnende Menschenmenge eintauchte, war ihre Müdigkeit mit einem Mal verschwunden. Sie suchte sich einen Platz an einer der Wände, nahm den Lotossitz ein und versank augenblicklich in tiefe Meditation. Sie selbst hätte nicht sagen können, ob diese Sekunden, Minuten oder gar Stunden andauerte. Ariane versicherte ihr später, es seien nur wenige Minuten gewesen, Eva habe in dieser Zeit so entrückt gewirkt wie noch nie.
    Eva sprach nicht von ihrer Reise an diesem Abend. Sie erwähnte auch mit keinem Wort ihre neue Liste. Eva hörte zu, wie sie nie zuvor zugehört hatte. Bevor sie Antworten gab, beriet sie sich mit ihrem inneren Lama, wie sie es später spaßhaft ausdrückte. Sie überlegte, was ihre Freunde, die Mönche wohl sagen würden und antwortete entsprechend. Zweimal brachte sie die ganze Halle zum Lachen und freute sich, dass sie die richtigen Worte gefunden hatte. Es waren Worte, die sie von den Mönchen hatte, sie standen in ihren Notizbüchern. Mit den Weisheiten hatte sie auch den unbeugsamen Humor dieser Männer mit nach Hause gebracht. In ihren Notizbüchern und auf der Speicherkarte ihrer Kamera.
    Die Intensität, mit der Eva an diesem Abend auf die Menschen in der Halle hörte und reagierte, empfand sie selbst als etwas unerhört Kostbares. Sie gab alles, sandte ihre Energie in die hintersten Winkel der Turnhalle, träufelte sie in Augenpaare und legte sie in ihre Worte. Als Gegengabe nahm sie die Bewunderung ihrer Anhänger entgegen, sog sie mit allen Poren auf und verwandelte sie in neue Energie, die sie sogleich zurück in die Menge sandte. Als ihr Körper der Anstrengung nicht mehr standhielt, schloss sie die Augen.
    Dann war die Halle plötzlich leer. Heinrich und Ariane knieten vor Eva und sahen sie

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