Ballast oder Eva lernt fliegen
einem fürchterlichen Traum in Weiß werdet ihr mich nicht sehen.“
„ Oh, na dann!“, höhnte Bernd. „Ihr findet also, dass ich Eva unterdrücke! Eva, unterdrücke ich dich?“
„ Natürlich nicht!“, antwortete Eva lächelnd. Und dachte, dass das der falsche Film sein müsse.
„ Wie soll ich sie denn unterdrücken?“ Langsam kam Bernd in Fahrt. „Vielleicht, indem ich sie nicht heirate? Zufälligerweise leben wir genau das, was du bisher immer so laut proklamiert hast: Wir führen eine gute Beziehung, ohne uns gegenseitig einzuengen.“
„ Du weißt genau, dass Eva trotzdem gerne heiraten würde!“, zischte Ariane.
„ Lass gut sein, Ariane, ich fühle mich sehr wohl, so wie es ist“, entgegnete Eva. Sie war sehr froh, dass der Trick ihres Lamas funktioniert hatte. Inzwischen hatte sie sich wieder gefasst und war nun in der Lage, der Situation angemessen zu reagieren. „Ariane, ich freue mich so für euch zwei. Nicht, weil ihr heiratet, ich weiß ja, dass das für euch lediglich Nebensache ist...“ – Arianes angespannte Miene löste sich und sie lächelte dankbar – „... aber es ist so wunderbar, dass ihr ein Kind bekommt. Ihr werdet bestimmt ganz großartige Eltern sein!“ Sie stand auf, ging in die Küche, sprach dort ein Mantra und kehrte mit frischen Sektgläsern und einer Flasche Multivitaminsaft ins Wohnzimmer zurück. „Ich finde, wir sollten noch einmal anstoßen. Auf die Liebe. Auf das Leben. Auf das Wesentliche!“
Stunden später saß Eva im dunklen Wohnzimmer und kühlte die pochende Stirn an ihrem Wasserglas. Nebenan schnarchte Bernd leise in ihr Gästekissen.
Vielleicht lag es ja am Jetlag, dass Eva sich außerstande fühlte zu schlafen. Sie hatten noch Sex gehabt, eine gute, solide Geburtstagsnummer, trotzdem stand Eva unter Strom wie lange nicht mehr. Um nicht über den Abend nachdenken zu müssen, musterte sie die farblosen Umrisse ihrer Möbel, die noch immer an die gegenüberliegende Wand gerückt waren. Esstisch und Stühle: Wozu brauchte man so etwas? Wozu eine Kommode voller Tischwäsche, ein Buffet, vollgestopft mit Geschirr und Gläsern, die, wenn überhaupt, nur ein- oder zweimal im Jahr hervorgeholt wurden? Überbleibsel aus ihrer kurzen Ehe mit Christians Vater. Das alles war doch nur Ballast! Und all die Möbel: Sie nahmen ihr die Luft! Der kleine Raum wurde erdrückt von all den Tischen, Stühlen und Polstermöbeln. So leergeräumt gefiel er ihr viel besser. Wozu brauchte sie ein Sofa oder einen Couchtisch?
Brauchen. Eva massierte sich die Schläfen. Das Wort bekam durch Kathmandu einen neuen, existentielleren Sinn. Was hatte sie früher nicht alles geglaubt zu brauchen! Ohne Lippenstift hätte sie sich nicht einmal zum Briefkasten gewagt. Ihre Garderobe barg noch vor wenigen Monaten für jede denkbare Gelegenheit das perfekte Outfit. Verreisen war eine logistische Großtat gewesen, bei all dem Zeug, das sie stets mit sich geschleppt hatte. Als kunstvoll hergerichtete Schönheit war sie durchs Leben stolziert. Und hatte doch ihren Mann nicht halten können. Ja, auch das hatte sie geglaubt zu brauchen: einen Ehemann. Wie demütigend hatte sie es stets gefunden, als alleinerziehende Mutter dazustehen. Sie hatte wirklich alle Register ziehen müssen, um den glücklich Verheirateten keine Gelegenheit zum Mitleid zu geben.
Selbst nach ihrer Wandlung, ihrer Neuerstehung hatte Eva den Gedanken an eine Ehe nicht aufgeben wollen. Doch ihre Tage waren so ausgefüllt, ließen so wenig Zeit übrig für die Beziehung, dass sie sich mit Bernds Haltung arrangiert hatte. Lerne innerlich loszulassen, ohne deine Wünsche aufzugeben. Es hörte sich so einfach an.
Ausgerechnet die zwei Wochen ohne Mann in ihrem Leben, ohne Sohn oder Sex, hatten ihr Erfüllung und Zufriedenheit gegeben. In Nepal hatte sie nur wenig Gepäck bei sich gehabt. Kleidung, Nahrung und etwas Geld: Was sonst hatte sie dort gebraucht?
Höre auf, Dinge anzuhäufen, wenn dir dein Leben gelingen soll. Eva kauerte auf ihrer Liege mit pochender Stirn und Blei in den Adern und wollte das Nepal-Gefühl zurück. Die Ansammlung von materiellen Gütern ist nur eine Karikatur des Glücks. Das Gefühl, leicht und unbeschwert zu sein, ja: fliegen zu können! Sie zersplittert und belastet den Geist. Das Dach der Welt war weit entfernt, doch Eva kannte einen anderen Weg, sich zu befreien.
Werde wieder leicht!
Am Montag beim Frühstück hatte Eva Mühe, ihre Ungeduld zu verbergen. Bernd schien gar nicht zu
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