Ballast oder Eva lernt fliegen
Augenzwinkern geliebt!) hatte er ihr gebeichtet, dass nicht einmal der Dalai Lama gegen Gefühlswallungen gefeit sei. Auch dürfe man nie vergessen, dass Gefühle das Leben bereicherten. Entscheidend aber sei, wie der Mensch mit ihnen umginge.
Der Trick nun war folgender: Eva solle versuchen, das Leben als eine Art Kinofilm zu betrachten. Von außen, als Publikum gewissermaßen, das war ganz entscheidend. So bliebe sie stets ein klein wenig auf Distanz und dies verschaffe ihr den entscheidenden Moment, die Reaktionszeit, die sie benötige, um mit Bedacht zu reagieren. Und nebenbei, so hatte der Lama mit schelmischem Lächeln gesagt, erspare es ihr das ständige, kräftezehrende Im-Mittelpunkt-stehen-müssen.
Eva hegte den Verdacht, dass weder ihr Lama, noch sonst einer der Mönche es nötig hatte, die Welt als einen Kinofilm zu sehen. Sie wunderte sich, wie er überhaupt auf diese Idee gekommen war, obgleich sie erfahren hatte, dass diese fröhlichen Mönche Kinofilmen und anderen weltlichen Vergnügungen längst nicht so abweisend gegenüber standen, wie sie es erwartet hatte. Im Grunde hatten die Mönche, abgesehen von ihrer Kleidung, überhaupt nichts mönchisches an sich gehabt. Sie hatten gelacht und gespielt wie kleine Kinder. Und doch hatte Eva sie als Brunnen der Weisheit erlebt, voller Unschuld und Güte, doch ohne die allergeringste Spur von Naivität. Eva hatte, zur Belustigung der Mönche, alles was sie hörte und sah in einem Notizbuch oder auf ihrer Kamera festgehalten. Die Tage im Kloster waren ihr kostbar, sie wollte kein noch so kleines Detail vergessen.
Fest überzeugt, dass der Trick mit dem Kinofilm ganz allein ihr gehörte, extra für sie erdacht von diesem großartigen Mann, hatte sie sofort mit der Umsetzung begonnen. Der Rückflug war eine besonders ergiebige Trainingseinheit gewesen, da in Doha ein Anschlussflug ausgefallen war, doch Eva hatte gelächelt und gelächelt und bei all ihrem Lächeln hatte sie gefühlt, wie die Mühsal des Lebens von ihr genommen und Geist und Körper leicht geworden waren. Als Bernd Liebig sie am Münchener Flughafen in die Arme geschlossen hatte, war dieses Lächeln Teil ihres Gesichts geworden und die Gelassenheit nicht mehr gespielt gewesen. Und auch nicht, jedenfalls nicht völlig, ihrer Erschöpfung geschuldet.
Nun, einen Tag nach ihrer Rückkehr, gab es viel zu erzählen. Von ihrer ersten Woche in Chengdu hatte Bernd bereits den Freunden berichtet. Eva beschloss, seine Version von China stehen zu lassen. Sie durfte seine Gefühle nicht verletzen indem sie zugab, dass Chengdu sie enttäuscht hatte. Es war herrlich gewesen, eine ganze Woche mit ihrem Geliebten zu verbringen, der sich zudem als kenntnisreicher Reiseführer entpuppt hatte. Doch seine Begeisterung für China konnte sie nicht teilen, schon gar nicht nach ihrer Reise von Lhasa nach dem nepalesischen Kathmandu. Zu viele Scheußlichkeiten der Chinesen hatte sie gesehen und selbst die Schluchten des Yangzi verblassten zu einem Nichts vor den majestätischen Gipfeln des Himalaya.
„Hat Bernd euch schon von meiner Reisegruppe erzählt?“, fragte sie. Doch ihr Versuch, die zerstörte Hauptstadt Tibets in ihrem Bericht auszusparen, misslang gründlich.
„ Die Gruppe ist doch von Lhasa aus gestartet, oder?“, hakte Heinrich sofort nach. „Sieht es dort wirklich so grauenhaft aus?“
Eva schluckte und widerstand dem Impuls, einfach das Zimmer zu verlassen. „Gibt es noch von diesen köstlichen Austern?“, fragte sie. Eine ziemlich dumme Frage angesichts des leeren Backblechs vor ihrer Nase. Heinrich machte auch gleich ein reuevolles Gesicht.
„Die Betonbauten der Chinesen sind tatsächlich eine Schande“, gestand Bernd. “Die ersten mussten wegen Einsturzgefahr schon wieder abgerissen werden. Aber Lhasa ist nicht nur wegen des Potala eine Reise wert. Ich wäre ja am liebsten mit der Qinghai-Tibet-Bahn angereist, aber meine Liebste wollte nichts davon wissen. Dabei ist diese Bahn ein kleines Weltwunder!“
„ Was gibt es denn als nächstes?“, fragte Eva. „Deine Austern haben Appetit auf mehr gemacht.“
„ Saltimbocca“, antwortete Heinrich lächelnd. „Geht ganz fix.“ Er blieb allerdings sitzen und lauschte mit gerunzelter Stirn Bernd, der sich inzwischen auf die technischen Daten der Bahnstrecke gestürzt hatte. Eva spürte, wie ihr Haltung und Lächeln abhanden kamen. „In nur fünf Jahren haben die Chinesen eintausend-einhundertfünfundzwanzig Kilometer Eisenbahnstrecke
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