Ballast oder Eva lernt fliegen
Doch für ihr Credo, dass es zuviel Ballast im Leben gab, schien es keine überzeugende Übersetzung ins Französische zu geben. Die Botschaft kam bei ihrem Gegenüber nicht an.
Gehetzt sah Eva sich nach Hilfe um. Vergeblich. Sie befand sich auf Feindesland. Schweißperlen kitzelten an ihren Schläfen, die Bluse war längst durchgeweicht. Warum hatte sie sich auf dieses Gespräch nicht besser vorbereitet? Sie bot ein jämmerliches Bild, sah es mit eigenen Augen hinter ihrer Feindin auf einem riesigen Monitor.
Nach einer endlosen halben Stunde stürzte Eva aus dem Studio und floh aus dem Gebäude des Senders, ohne ein Taxi zu rufen. Draußen eilte sie die nächstbeste Straße hinunter. Fünfundvierzig Minuten lang irrte sie durch die fremde Stadt und warf der arroganten Talkmasterin verspätete Erwiderungen an den Kopf. Geistreiche, niederschmetternde, unwiderlegbare Erwiderungen. Auf dem Höhepunkt ihres fantasierten rhetorischen Sieges erblickte Eva einen Burger King. Sollten diese chauvinistischen Franzosen ihr blutiges Fleisch doch selbst essen, beschloss sie, tauchte in die Leuchtstoffröhrenatmosphäre ein und stellte sich in die Warteschlange.
Die Freunde trösteten sie nach ihrer Rückkehr.
„Was hast du erwartet, Französinnen!“ Ariane, schnippisch. „Mich wundert nur, dass die französische Ausgabe der Wahrheiten sich so gut verkauft.“
Eva umarmte die Freundin dankbar.
Heinrich fand, Frankreich sei ein schwieriges Pflaster, aber kein hoffnungsloser Fall. „Franzosen lieben das Künstliche“, gab er zu bedenken.
„ Darum geht es ja!“, polterte Bernd. „Genau dagegen kämpft Eva doch!“
Eine warme Welle der Dankbarkeit umspülte Eva. Es war gut, Freunde zu haben! Doch in die Wärme mischte sich heiße Scham, denn von ihrem Ausflug ins Fritten-Paradies hatte sie nichts erzählt. Zu sehr brannte ihr die Reue auf der Zunge.
Es war nicht ihr einziges Geheimnis dieser Art. Auch zu Hause kam es vor, dass Eva heimlich zu indizierter Kost griff. Noch immer schlummerten verbotene Früchte in ihrem Vorratsschrank und in der Tiefkühltruhe, schamhaft versteckt hinter moralisch einwandfreier Nahrung. Sie lockten mit dem Versprechen geschmacksverstärkter Sinnlichkeit, wenn Eva frustriert und alleine war. Danach fühlte sie sich unbefriedigt, beschmutzt.
Nach einem solchen Sündenfall hing Eva deprimiert auf ihrer Liege. Sie war unwürdig und falsch, sie verdiente weder ihren Ruhm noch die Fürsorge, mit der Bernd für sie einkaufte und kochte. Der gute Bernd! Er hatte ihr nie gestanden, wie sehr er Fertigkost verabscheute. Es schien ihn überhaupt nicht zu stören, dass Eva eine erbärmliche Köchin war. Nur zu gern übernahm er selbst die Regie in ihrer Küche. Mehrmals hatte er sein Angebot erneuert, auch wochentags zu kochen, nach der Arbeit. Überhaupt schien er sich bei ihr sehr wohl zu fühlen. Auch sein eigenes Appartement hatte Federn lassen müssen und nahm immer mehr Ähnlichkeit mit Evas orangefarbenem, ballastfreien Tempel an. Er bewunderte sie, liebte sie. In allem, was sie tat, hatte sie seine Unterstützung. Er war Eva größter Fan, niemals würde er sie daran hindern, ihren Weg zu gehen. Warum sperrte sie sich so sehr gegen seinen Wunsch nach einem gemeinsamen Alltag?
Nein, dachte Eva, wozu sollte sie ihn weiter in ihr Leben dringen lassen? Über den Wunsch, zu heiraten, war sie endlich hinaus – wenn sie zusammenzogen, würde sie ihn da nicht neu beleben? Auch brauchte sie die unbeobachteten Zeiten. Allein die Vorstellung, vierundzwanzig Stunden am Tag die Ikone Eva Idengart sein zu müssen, war erschreckend.
Ihr Magen, dessen Grummeln mehr mit ihrem schlechten Gewissen zu tun hatte, als mit dem eben genossenen Schlemmerlachs, war Beweis genug für ihre Unwürdigkeit. Dem Drang widerstehend, aufs Klo zu stürzen, um den verbotenen Fisch zu erbrechen, sah Eva sich in ihrem Wohnzimmer um und zog Bilanz. War es das, was sie wollte? Ja, hier gab es nichts zu bereuen, sie liebte ihre Wohnung wie sie war.
Eva erhob sich, um den Pflanzen Wasser zu geben. Sachte fuhr sie mit den Fingern an den schlanken Blättern der Dracena entlang. Die Pflanzen hatte sie gekauft, nachdem sie den Gärtner Boskop besucht hatte. Nachdem er sie zum ersten Mal in sein Haus gebeten hatte.
Das Haus des Gärtners Boskop. Wie anders es war. Die winzigen Räume vollgestopft mit Bücherregalen, Pflanzen und – ja, mit Dekorationen. Wie anders sollte sie die Sachen nennen? Fundstücke nannte er sie. Ein Haus
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