Ballast oder Eva lernt fliegen
voller Ballast. Und doch hatte Eva sich dort wohlgefühlt. Eva betrachtete nachdenklich den Drachenbaum und wusste, dass sie zu Boskop gehen musste.
Es dunkelte bereits, als sie in seinen Garten trat. Ein Tier floh lautlos in den Schutz der rein und weiß leuchtenden Pfingstrosen, die mahnend ihr entgegenblickten.
Er fragte nicht und führte sie in seine Stube, wo auf dem Tisch ein spätes Abendessen stand. Sie sagte nichts von ihrem Fisch und fand sich bald vor einem Teller sitzen und aß sein Brot und trank von seinem Wein. Sie sprachen von dem Ruf der Nachtigallen, dem schweren Duft des Pfeifenstrauchs und lauen Sommernächten. Und Eva brach das Brot in kleine Stückchen, und plötzlich brach die Mauer um sie ein.
Sie beichtete ihr Kämpfen und Versagen, die Lügen und die Unzulänglichkeit. Und Boskops Blick ward ernst, und schwer wog seine Stimme.
„ Soll alles nur ein Spiel gewesen sein?“
„ Es ist mir Ernst. Ich habe mich verändert!“
„ Das Lassen ist wohl leichter als das Tun.“
„ Ich will es doch! Es fehlt mir nur an Zeit!“
„ An Zeit wofür? Wahrhaftigkeit zu leben? Die Wahrheit sagt sich schneller als die Lüge. Sie muss nicht erst erfunden sein.“
„ Es darf nicht sein! Nicht jetzt! Die Menschen glauben doch an mich!“
Er schwieg.
„Das neue Buch: Es soll schon bald erscheinen!“
Er sah sie traurig an und schüttelte den Kopf.
Da lief sie weinend aus dem Haus und aus dem Garten, und floh fortan des Gärtners Paradies.
Drei
Für Hobbes ist Glück das ständige Weiterschreiten von einer Begierde (cupitas) zur nächsten; Lamettrie empfiehlt sogar Drogen, da diese wenigstens die Illusion von Glück vermitteln; für de Sade ist die Befriedigung grausamer Impulse allein schon deshalb legitim, weil sie vorhanden sind und nach Befriedigung verlangen.
Erich Fromm
Das Schloss klemmte, wie alles an diesem grässlichen Tag. Die Bluse klebte, überall juckte der Schweiß und die feuchten Finger kämpften mit dem Schlüsselbund. Ein Fluch – er half: Der Schlüssel drehte sich. Die Tür gab den Weg in die Wohnung frei. Zu, und: endlich allein. Durchatmen. Die Luft in der abgedunkelten Wohnung war abgestanden, aber kühl.
Der Anrufbeantworter blinkte. Natürlich. Immer blinkte er. Das war der Preis des Erfolges.
Erste Nachricht: Ariane, mal wieder total entnervt. Warum wollte sie ihr Recht auf Mutterschutz nicht in Anspruch nehmen? War das Kind erst da, würde es auch ohne sie gehen müssen. – Vier Termine in einer Woche und ob nochmal unbezahlter Urlaub drin sei: Bitte unbedingt morgen klären, ich brauche die Antwort mittags. Wenn ich nichts von dir höre, ruf ich dich auf der Arbeit an, ist mir egal. – Nicht auch das noch! Es war schon anstrengend genug, jeden Morgen in die Rolle der Empfangsdame zu schlüpfen.
Zweite Nachricht (Bernd): Hallo, meine Göttin, bin heute Abend leider nicht erreichbar, Besprechung mit Kurt. Halte dir den Samstag frei, ich habe eine Überraschung für dich. Du wirst begeistert sein! Also versetz mich nicht, schon wieder ein Wochenende ohne dich überlebe ich nicht.
Dritte Nachricht: kurzes Rauschen.
Das war’s. Gut. Kein sofortiger Rückruf nötig. Das Lächeln wäre schwer gefallen, trotz der zwanzig Jahre Routine als Empfangsdame. Nach Lehrbuch: Bei Belastung dreimal klingeln lassen, tief durchatmen und – unbedingt! – lächeln. Das Lächeln kam längst automatisch, aber heute hatte es geschmerzt. Ganz anders als das Lächeln der Mönche, das tat nie weh.
Unbezahlter Urlaub. Der war zu bekommen, auch wenn die Kolleginnen allmählich durchdrehten. Der Personalchef sagte zu allem ja. Der Preis: ein langes Gespräch über seine Frau. Natürlich war die depressiv, wäre jede, die mit diesem Kerl zusammenleben müsste. Verrückt nur, dass er glaubte, Eva könne helfen. Weil nach ein paar Yogatreffen eine manische Phase eingetreten war. Der Idiot. Jetzt war sie wieder depressiv und er würde um Rat fragen. Wie wäre es mit diesem: Scheidung? Das würde vielleicht helfen. Weg mit dieser überflüssigen Ehe. Weg mit dem grässlichen Personalchef...
Genau: Weg mit ihm. Weg mit der Geprahl AG. Weg mit den unzähligen Anrufen und dem Headset. Wozu noch dieser Job? Er war nur noch Ballast. Bleischwer. Zentnerschwer. Erstickend.
Eine Liste musste her, eine befriedigende. Das Kribbeln unter der Kopfhaut, es schrie nach einer Liste. Es war höchste Zeit, die rote Liste hatte nichts gebracht, der Rausch war zu kurz gewesen, kaum eine Stunde, was
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