Ballast oder Eva lernt fliegen
Wochenende. Ich kümmere mich um Gepäck und Abendessen.“
Die Sonne hatte ihre Kraft noch nicht verloren. Eva schwitzte, als sie, ihren Glücksstein in der verkrampften Faust, durch die Straßen eilte. Die Luft stand still, verweigerte die ersehnte Erfrischung, sickerte zähflüssig in ihre Lungen. Sie überlegte nicht, wohin es sie trieb, warum ihre Unruhe mit jedem Schritt noch zu wachsen schien, bis sie in Boskops Straße einbog und eine Frage alle anderen beantwortete: Würde sie ihn noch in seinem kleinen Garten-Paradies antreffen?
Er war noch da. Sie hörte ihn, bevor sie ihn erblickte. Der Gärtner pfiff ein Lied. Ihr schien, als rufe es nach ihr aus ferner Kindheit. „… da sieht es lustig aus“, so fiel sie leise ein. „Es sind darin fünf Stübchen, grad wie in einem Haus.“
Der Gärtner bückte sich, sein Pfeifen brach in Versesmitte ab, und in die Stille, in die plötzliche hinein, ertönte ihr Gesang. Rasch wandte Boskop sich ihr zu und lächelte sie an.
Im Garten musste sie sich an den Holztisch setzen, und Boskop ging ins Haus und brachte Apfelsaft. Der schmeckte köstlich: süß und herb zugleich.
Die Hände tief ins Erdreich eingegraben, verbrachte Eva eine Stunde auf den Knien. Der Gärtner lehrte sie, den Boden zu bereiten, verfilzten Wurzeln Luft zu machen und von Krankem zu befreien. Sie atmete den Duft der aufgebrochenen Erde, gewährte Regenwürmern Schutz vor kaltem Stahl, erquickte frisch gesetztes Grün mit frischem Wasser.
Dann saßen sie erneut am Tisch und tranken Saft und schwiegen. Mit nackten Zehen grub sie Furchen in den Kies. Sie bückte sich und griff nach einem weißen Stein.
„ Ein Glücksstein“, sagte sie, „den schenk ich Ihnen. Ich habe meinen eignen stets dabei.“ Sie zog den Kieselstein hervor. Erzählte, wie er nach langer Zeit den Weg zurück zu ihr gefunden.
Der Gärtner nahm den weißen Stein entgegen und sah ihn lange schweigend an. „Ich will ihn hüten“, sprach er endlich leise und barg den Stein im Hemd, an seiner Brust.
Es gab Rückschläge. Etwa jene Buchvorstellung im französischen Fernsehen. Die Talkmasterin, eine mehr künstlich denn kunstvoll zurechtgemachte Brünette, schien alles daran zu setzen, Eva ins Straucheln zu bringen. Die ganze Situation war grotesk. Eine Stimme in Evas Ohr übersetzte das spitzmündig geratterte Französisch in holpriges, in seinem Sinn oft unergründliches Deutsch. Einzig die Feindseligkeit ihrer Inquisitorin wurde in dem Kauderwelsch deutlich. Ein Kinofilm, wiederholte Eva immer wieder stumm im Bestreben, nicht völlig überfahren zu werden. Das hier ist ein Kinofilm, und dazu ein schlechter.
Es war später Vormittag, Eva hatte in einem durchgelegenen Hotelbett schlaflose Stunden verbracht, und das aufdringliche Parfüm der Talkmasterin verursachte ihr Kopfschmerzen.
Hinter den Kameras wartete ein terrassenförmig ansteigendes, ausschließlich weibliches Publikum auf die Fehler, mit denen Eva sich verraten würde. Selbst hinter den unförmigen Fernsehkameras lauerten stark geschminkte, blondierte Frauen.
Eva fühlte sich eingekesselt, ihre Ungeschminktheit gab ihr ein Gefühl der Blöße und Verletzlichkeit, wie sie es lange nicht mehr für möglich gehalten hatte. In der vagen Hoffnung, wenigstens ein paar Zentimeter auf dem Boden der Sympathie gutzumachen, bekannte sie, welch große Rolle Mode und Make-up in ihrem früheren Leben gespielt hatten. „Erst nachdem ich mich ganz frei gemacht hatte von den Diktaten der Schönheitsindustrie, ist mir bewusst geworden, wie sehr der Kult um das Äußere meinen Blick für das Wesentliche im Leben getrübt hatte.“
Die Talkmasterin zog die dünnen Striche in die Höhe, die sie anstelle der Augenbrauen trug, und ratterte mit ihren spitzen, blutigen Lippen einen Satz, den die Frau in Evas Ohr so übersetzte: „Soll das sagen, Ihre Bekehrung ist von Natur her religiös?“
Eva brachte nicht mehr als ein irritiertes „Oh...“ heraus, da setzte die Französin bereits nach. „Ist es richtig, dass Sie sind buddhistisch?“, fragte die körperlose Stimme zeitversetzt.
Eva schüttelte kraftlos den Kopf. Sie hatte hierauf keine Antwort. Tatsächlich hatte sie auf keine Frage dieser Frau eine Antwort.
„Wenn Sie nicht agieren mit religiöser Motivation, auf welchen Philosophen stützen sie sich?“
„ Würden Sie auch verzichten auf Hilfe, Kosmetik, wenn Sie sind hässlich?“
Eva versuchte auszuweichen und das Gespräch auf vertrauteres Terrain zu lenken.
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