Ballaststoff
nich schlecht. Der Dokter seggt ümmer, ik soll viel trinken. Un nich nur Köm!«, scherzte der alte Mann. Georg freute sich, ihn heute so munter zu sehen. Vor ein paar Wochen hatten ihm Herzrhythmusstörungen zu schaffen gemacht, inzwischen schien er sich wieder etwas erholt zu haben. Er brachte ihm ein großes Glas Apfelschorle und setzte sich zu ihm.
»Und wie gehts dir bei der Wärme?«
»So lang ik hier ruhig in Schatten sitten kann, deit dat miene olen Knochen richtig gut. So ’n schönen Sommer hebbt wi schon lang nich mehr hier oben hat. Is dat nich schön?«
»Mmh«, nickte Georg zustimmend und biss in sein Vollkornbrot.
»Aber du musst man immer arbeiten, wat? Jedenfalls sühst du ut as son Leuchtturm zwischen all den brunen Menschen hier.«
»Oft war ich in diesem Jahr nicht am Strand, das stimmt. Aber das gute Wetter hält ja hoffentlich noch eine Weile an.«
Heini nickte und schaute mit einem verträumten Lächeln hinaus auf die Ostsee, wo im Dunst die mecklenburgische Küste lag.
»Wi hebbt dat man schön hier«, meinte er kurz darauf mehr zu sich selbst.
Georg mochte den alten Mann. Plötzlich ging ihm durch den Kopf, wie sich ein Leben ohne Astrids Familie wohl anfühlen würde. Gut, ihre beiden Schwestern und deren Ehemänner wären kein echter Verlust, aber seine Schwiegereltern? Legten sie wirklich Wert auf den Kontakt zu ihm?
Das Verhältnis zu seiner Schwiegermutter Johanna war anfangs ausgesprochen distanziert gewesen, ja, er hatte bis vor Kurzem unter ihrer kleinkarierten, strengen Weltsicht sogar ziemlich gelitten. Sie, die Hanseatin, die sich als Sprössling einer alteingesessenen Lübschen Familie immer für etwas Besseres gehalten hatte, musste sich mit einem Schwiegersohn begnügen, der trotz eines Jurastudiums wohl ewig nur Kriminalhauptkommissar bleiben würde, was sie für keine besonders glanzvolle Position hielt. Erschwerend kam hinzu, dass er einen eher unkonventionellen Kleidungsstil pflegte, seine widerspenstigen braunen Locken in keine adrette Frisur zwingen konnte und schon in jungen Jahren mit einer etwas barocken Figur ausgestattet war. Und außerdem hörte man ihm immer noch seine Herkunft aus Oberfranken an.
In letzter Zeit allerdings schlug Johanna ihm gegenüber wesentlich moderatere Töne an. Vielleicht lag es an der Weisheit des Alters, oder sie hatte sich mittlerweile an ihn gewöhnt – die nach wie vor sehr lebhafte alte Dame, die unbestritten das Oberhaupt ihrer Familie war, schien ihren Frieden mit Georg gemacht zu haben. Wie würde sich wohl die Beziehung zu ihr in Zukunft entwickeln?
Neben ihm war ein leises, rhythmisches Pusten zu vernehmen. Heini lehnte gemütlich in seiner Ecke des Strandkorbs und war eingeschlafen. Mit stillem Genuss löffelte Angermüller Johannas Grießflammeri mit der erfrischend fruchtigen Kirschsoße, vergaß für den Moment seine schlechte Laune und beobachtete seine Töchter, die nebeneinander auf ihren Handtüchern lagen. Betont cool, die Augen hinter riesigen Sonnenbrillen versteckt, taxierten und kommentierten sie die Leute um sich herum. Als ihr gleichaltriger Cousin Philipp sich zu ihnen gesellen wollte, verscheuchten sie ihn mit hochherrschaftlicher Geste, und gleich darauf begannen sie zu giggeln, bis ihnen fast die Luft wegblieb.
Nicht ohne Stolz stellte Angermüller fest, dass Julia und Judith zu zwei richtigen Schönheiten wurden, groß und schlank, mit Beinen, die noch immer länger zu werden schienen. In diesem Sommer konnte man den Mädchen fast beim Wachsen zusehen. Sie hatten erstaunlicherweise das helle Haar ihrer Mutter geerbt und, in reizvollem Kontrast dazu, Georgs braune Augen. Es war nicht zu übersehen, dass die Zwillinge die Aufmerksamkeit junger, aber auch älterer Herren auf sich zogen. Was dachten diese alten Kerle denn, wie alt die beiden waren? Er selbst konnte das sehr schwer einschätzen, für wie alt andere Leute sie halten würden. Mit 13 Jahren waren sie doch nach wie vor Kinder, oder? Aber man wusste ja, dass es viele Typen gab, die gerade auf so junge Mädchen standen. Vaterstolz auf die hübschen Töchter war das eine, Sorge um die beiden das andere.
»Na, worüber grübelst du?«
Astrid stand neben ihm.
»Aus Kindern werden Leute, oder?«
Immer wieder erstaunte es ihn, wie gut seine Frau ihn kannte, wie oft sie seine Gedanken erriet, ihm Dinge auf den Kopf zusagte, manchmal, bevor er sich selbst darüber so richtig im Klaren war. 15 gemeinsame Jahre hinterließen einfach ihre Spuren,
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