Ballaststoff
kriegst du das …?«
Doch als sie Theas beruhigendes Nicken sah, sagte sie nichts mehr, denn sie selbst hatte ihrer Tochter beigebracht, dass man jedem erst einmal alle Fähigkeiten zutrauen und ihn selbst versuchen lassen sollte.
Henning war nicht auf dem Hof gewesen, als sie vom Strand zurückgekommen waren. Sie hatte einen Blick in den Stall geworfen, die Kuh hatte noch nicht gekalbt. Demnach musste er erneut aufgebrochen sein, denn der Wagen war nicht da. Vielleicht war er irgendwo in den Wald zum Laufen gefahren. Vor drei Jahren hatte er das Joggen für sich entdeckt. Es war für ihn genau das Richtige, um abzuschalten, frei im Kopf zu werden, seine Art von Meditation. Und wenn er gestresst war, ihn etwas belastete, erhöhte er automatisch sein Laufpensum. So wie in dieser Woche, in der er bereits dreimal laufen war, und jetzt anscheinend wieder.
»Jonas!«, rief sie nach oben. »Tee trinken! Kommst du?«
Kurz darauf saßen sie um den langen Holztisch und taten sich an der Friesentorte gütlich, die hauptsächlich aus Sahne, Pflaumenmus und Blätterteig bestand und die im Hause Langhusen äußerst beliebt war. Das Rezept dazu hatte Gesche von ihrer Tante Birthe, die auf Sylt wohnte und bei der sie als Kind oft die Ferien verbracht hatte.
Tilde hatte die Einladung zum Tee ausgeschlagen, da sie für ihre erste Ausstellung in der neuen Heimat noch eine Menge vorzubereiten hatte. Dennoch war Gesche zufrieden, der Anfang war gemacht, und sie sah freudig gespannt einer intensiven, nachbarschaftlichen Beziehung mit der Malerin entgegen. Endlich eine Frau auf dem Hof, mit der sie hin und wieder ein gutes Gespräch führen konnte.
»So, Kinder, jetzt ist es aber erst mal gut mit der Friesentorte! Andere wollen vielleicht auch was abhaben. Hier gibt’s noch Kirschkuchen von gestern, der schmeckt auch lecker.«
Die jungen Leute ließen sich das nicht zweimal sagen, und im Nu war der Rest auf die Teller verteilt. Wohlig streckte sich Gesche in ihrem Gartenstuhl und genoss die lebhafte Runde um sich herum. Im Schatten der alten Obstbäume ließ es sich gut aushalten. Sie sah zu ihrem Blumengarten, in dem blauer Rittersporn neben zartem Islandmohn stand, gelbe Margeriten und weißer Phlox wucherten und am Zaun Stockrosen von rosa bis violett blühten. Die Beerensträucher und der Gemüsegarten schlossen sich an, alles grün und üppig, eine Sommeridylle wie aus dem Bilderbuch. Natürlich war diese Idylle nicht von selbst gewachsen. In all den Dingen steckte eine Menge Arbeit, denn das Leben auf dem Hof war vor allem Arbeit – trotzdem hätte Gesche auf keinen Fall mehr mit ihrem früheren Städterdasein tauschen mögen. Als sie ein Motorengeräusch hörte, dachte sie, Henning käme endlich zum Tee, und war etwas erstaunt, weil zwei ihr unbekannte Männer um die Ecke bogen. Weitaus erstaunter war sie, nachdem sich beide als Kriminalbeamte vorgestellt hatten. Nero, der friedlich neben der Kaffeetafel gedöst hatte, erhob sich und gab ein kurzes, tiefes Bellen von sich, wie um seiner Pflicht als Wachhund Genüge zu tun.
»Können wir uns vielleicht irgendwo ungestört unterhalten, Frau Langhusen?«, fragte der Große mit den dunklen Locken, der ihr irgendwie bekannt vorkam. »Es geht um Ihren Mitbewohner Kurt Staroske.«
Thea schaute mit großen Augen zu den Polizisten, und auch die anderen am Tisch musterten die beiden neugierig. Der Hund trottete auf sie zu und schnüffelte an ihren Schuhen.
»Ich kenn euch nicht«, stellte Dominik fest und zeigte mit der Kuchengabel auf Angermüller und Jansen. »Ihr seid noch nie auf dem Hof gewesen! Was wollt ihr?«
»Das erzähl ich dir später. Dominik, du sorgst bitte dafür, dass das gebrauchte Geschirr abgeräumt wird, wenn ihr fertig seid. Und stellt den Kuchen in den Kühlschrank. Wer weiß, wann Henning kommt«, ordnete Gesche an und ging mit den Beamten weiter nach hinten in den Garten, wo in einer Ecke ein von Henning gebauter Pavillon aus Holz stand, in dem eine kleine Sitzgruppe untergebracht war.
»Was ist mit Kurt?«, fragte sie. »Der ist die ganze Woche weg gewesen. Ist ihm was passiert?«
»Wann genau haben Sie ihn denn das letzte Mal gesehen?«, fragte der jüngere Mann, den sie nie für einen Kriminalbeamten gehalten hätte, wäre er ihr auf der Straße begegnet. Sie fand sogar, dass er nicht einmal besonders vertrauenerweckend aussah, mit dem Allerweltsgesicht unter den struppigen, aschblonden Haaren, in seinen ausgewaschenen Jeans und dem labberigen
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