Ballaststoff
nicht vorstellen, dass du dich nur aufgrund des heutigen Abends so echauffierst«, versuchte Angermüller in bedachtem Ton, ihren Dialog fortzusetzen. »Vielleicht liegen die Gründe dafür ja ganz woanders, viel tiefer. Vielleicht liegt ja in unserer Beziehung grundsätzlich etwas im Argen.«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Astrid, wieder etwas ruhiger, und schaute ihn an. Es sollte wohl so klingen, als ob Georg mit seiner Einschätzung völlig danebenlag. Doch er kannte seine Frau gut genug, um die Verunsicherung nicht zu überhören, die sich hinter ihrer Frage verbarg.
»Weiß nicht. Es kommt mir halt so vor«, sagte er vorsichtig. »Wir sollten einfach mal darüber reden.«
»Ja, vielleicht sollten wir das«, stimmte Astrid halbherzig zu. Sie sah ihn nicht an und stand plötzlich auf. »Auch wenn ich morgen nicht so früh raus muss, ich bin schrecklich müde. Wir müssen das verschieben. Ich geh zu Bett. Gute Nacht.«
»Schade«, bedauerte Georg enttäuscht, »gute Nacht, schlaf gut.«
Nachdem seine Frau gegangen war, räumte er das restliche Geschirr und die Gläser ab, nahm sich ein kleines Glas Rotwein und blieb noch einen Moment draußen sitzen. Grillen zirpten, von irgendwo hörte man Frösche quaken, der Himmel war wieder sternenklar und versprach einen weiteren makellosen Sommertag. Einerseits ärgerlich, dass erneut die Chance zu einem klärenden Gespräch ungenutzt vertan worden war, andererseits … Astrid war sich über den Zustand ihrer Beziehung genauso im Klaren wie er, weshalb sie sich so überhastet zurückgezogen hatte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass er das offen ansprechen würde. Auch wenn Georg lange nicht die Fertigkeit seiner Frau erreichte, so manches konnte auch er in ihrem Verhalten lesen. Und dass ihre Angst, vielleicht gar das Scheitern ihrer Beziehung erkennen und den Konsequenzen ins Auge blicken zu müssen, mindestens ebenso groß war wie die seine, lag klar auf der Hand. Georg konnte das sehr gut verstehen.
Der kleine Sektionssaal stieß an die Grenzen seiner Aufnahmefähigkeit angesichts der vielen Menschen, die sich in dem gefliesten Raum versammelt hatten. Angermüller hielt sich mit Jansen so weit wie möglich im Hintergrund. Durch seine Körpergröße konnte der Kriminalhauptkommissar ohnehin mehr sehen, als ihm eigentlich lieb war. Im unbarmherzigen Neonlicht lag der grünlich verfärbte, leicht aufgeblähte Körper des Opfers auf dem Sektionstisch. Diese Prozedur hätte auch gern ohne Angermüller stattfinden können. Er zog es vor, in aller Ruhe in seinem Büro den fertigen Bericht des Rechtsmediziners zu studieren, doch manchmal kam auch er an dieser unangenehmen Pflicht nicht vorbei.
»Dank der Mithilfe fleißiger Insekten«, eröffnete Dr. Steffen von Schmidt-Elm die Leichenschau, »und unter Berücksichtigung der vorherrschenden Temperaturen in den vergangenen Tagen wissen wir bereits, dass wir von einer mittleren Liegezeit von fünf bis sieben Tagen ausgehen können, das heißt, der Todeszeitpunkt liegt um das vorletzte Wochenende.«
Er schilderte noch einmal mit viel Liebe zum Detail die Erkenntnisse aus seinen Untersuchungen zu Calliphora vicina und Lucilla caesar. Dann machte er sich, gemeinsam mit seiner Kollegin Frau Dr. Ruckdäschl, die wie er in einen grünen OP-Kittel gehüllt war, zunächst an die äußere Begutachtung. Die beiden Mediziner verständigten sich mit kurzen Handzeichen und Blicken über den Toten hinweg, während Steffen die Ergebnisse – wie Größe, Gewicht, Hautfarbe, Narben, Verletzungen und so weiter – für alle Umstehenden laut und deutlich in ein Diktiergerät sprach. Besondere Aufmerksamkeit widmete er vor allem den Würgemalen am Hals des Mannes.
Ein Kollege vom Erkennungsdienst nahm die Fingerabdrücke und schnitt die Fingernägel des Opfers, die er in einem Pergamintütchen sammelte, um darunter befindliche DNA-Spuren zu sichern. Unauffällig umkreiste der Institutsfotograf die Szene, fotografierte systematisch den Leichnam und entsprechende, von Steffen gewünschte Details.
Während seine Kollegin assistierte, öffnete der Rechtsmediziner mit zwei langen Schnitten die Haut über Brust- und Bauchhöhle, die inneren Organe wurden abgesetzt, begutachtet und der Präparatorin übergeben. Es war im Übrigen die gleiche Frau, die am Vortag dank Angermüller und Jansen für die Identifizierung extra ins Institut hatte kommen müssen. Ihre Laune schien auch heute kein Deut besser zu sein. Wie eine unwillige
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