Ballnacht in Colston Hall
dafür, die Gesetzesbrecher stattdessen ins Exil zu schicken. Von dieser Stunde an hatte Ralph seine Eltern nie mehr gesehen.
Zehn lange Jahre waren seitdem vergangen, zehn Jahre, in welchen er an Körper und Geist gereift war und gelernt hatte, seine Gefühlsregungen zu kontrollieren, seine Nachgiebigkeit zu bekämpfen, kompromisslos und ehrlich mit allen Männern umzugehen und sein Vergnügen zu suchen, wo es sich fand, ohne irgendjemanden seine Verwundbarkeit erkennen zu lassen. Ja, er hatte sie so gut verborgen, dass es jetzt nichts mehr zu verstecken gab. Er war ein harter Mann geworden, innerlich und äußerlich. Oh, er konnte natürlich auch charmant sein, und es gab manch eine Dame auf jenem schwül-heißen Subkontinent, die dafür Zeugnis ablegen konnte. Doch nie war es ihm unter die Haut gegangen.
Nun war er gekommen, um die Scherben zusammenzukehren und zu entscheiden, ob er in England bleiben würde – in Colston Hall in Sichtweite jener Menschen, die ihn Mörder genannt hatten. Aber warum sollte er eigentlich nicht bleiben? Er war jetzt der Earl of Blackwater, ein angesehener Mann, und würde jeden anständig und gerecht behandeln. Sollte er mit Freddie zusammentreffen, würde er ihn einfach übersehen. Das Beste wäre, er würde die ganze Familie Fostyn übersehen, die ihm nur Kummer und Unglück gebracht hatte. Aber vielleicht wohnten sie gar nicht mehr im Kirchdorf, da das Pfarrhaus ihnen ja nicht mehr zustand.
Während die Kutsche sich Colston Hall näherte, wanderten Ralphs Gedanken nun zu jenem Mädchen, das er in Chelmsford getroffen hatte, und damit zu einem wesentlich angenehmeren Gegenstand als die tragische Vergangenheit. Die junge Dame war eine ausgesprochene Schönheit mit ihren klassischen Zügen, dem üppigen Haar und den ach so ausdrucksvollen Augen. Sie hatte ihm bereitwillig und gelassen geantwortet, ohne affektiert zu lächeln oder mit den Wimpern zu klimpern, wie es viele Frauen unter seinen prüfenden Blicken getan hätten. Sie wirkte sehr kühl, doch er hatte gespürt, dass unter der ruhigen Oberfläche ein Feuer darauf wartete, angefacht zu werden, und er wäre gern derjenige, dem es gelänge, den Brand zu entzünden.
Nun schalt er sich wegen seiner Zurückhaltung. Er hätte wahrhaftig energischer darauf dringen müssen, ihren Namen zu erfahren und ihren Wohnsitz, denn neben all den komplizierten Verhandlungen mit dem Notarius der Familie wäre ihm ein kleiner Flirt sehr gelegen gekommen. Der Verwalter hatte ihn zudem bereits im Voraus davon unterrichtet, dass viel Arbeit auf ihn zukommen würde, denn im und um das Landgut war in der Vergangenheit so manches vernachlässigt worden.
Als Ralph den in Ehren ergrauten Mann nach dem Grund für den Verfall der Mauern und die Verwahrlosung der Abwassergräben fragte, zuckte dieser mit den Schultern. “Seine Lordschaft war oft mit seinen Gedanken woanders. Der Kummer, Ihr versteht …”
“Welcher Kummer? Heraus mit der Sprache.”
“Der schlechte Gesundheitszustand seiner Gemahlin. Sie hat es nie verwunden.”
Ralph musste nicht weiter in den Mann dringen, was denn die Mutter nie verwunden hatte. Es war eine weitere Heimsuchung, die Freddie Fostyn zur Last gelegt werden musste. Blieb nur zu hoffen, dass er ihm nie wieder begegnen würde.
Als Ralph am nächsten Tage mit dem Notarius die Liste der Pächter und der von ihnen bewohnten Grundstücke durchging, zeigte sich zu seinem Missvergnügen, dass die Vermutung, die Familie Fostyn habe die Gegend längst verlassen, ein Trugschluss gewesen war, denn sie wohnte jetzt nur eine Viertelmeile entfernt in dem ehemaligen Witwensitz.
“Wie kommen die Leute eigentlich dazu?” erkundigte er sich ärgerlich.
“Seine Lordschaft, Ihr verehrter Herr Vater, hat es so bestimmt. Ich denke, er hatte Mitleid mit ihnen, als sie das Pfarrhaus verlassen mussten.”
“Mitleid?” wiederholte Ralph verächtlich. “Und wie hoch ist der Mietzins, den sie zahlen?”
“Nun … hm … sie zahlen gar keinen, Mylord. Der Witwensitz hat nie Zins eingebracht. Seit Eure Frau Großmutter das Zeitliche gesegnet hat, stand er leer, und …”
“Nun, die Dinge haben sich inzwischen verändert”, unterbrach Ralph die weitschweifigen Erklärungen. “Teilen Sie Mrs Fostyn mit, dass sie das Haus zu räumen hat. Geben Sie ihr eine Woche Zeit …”
“Ich bitte um Vergebung, Mylord, aber die Frau kann doch nicht innerhalb einer Woche ein neues Heim finden. Und Seine Lordschaft hatte festgelegt, dass sie
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