Ballnacht in Colston Hall
warum hatte sie nur nicht ihren Namen genannt, als der Fremde andeutungsweise danach fragte? Selbst die Bezeichnung ihres Dorfes hätte schon genügt, wenn er wirklich daran interessiert gewesen wäre, sie wiederzusehen. Aber hatte er es wirklich ernst gemeint? Wahrscheinlich war ihm die Situation nur gelegen gekommen, um ein wenig mit einer jungen Dame zu flirten – nicht mit einer Lady natürlich, denn er hätte sich wohl nie erlaubt, derart ungezwungen mit einer hochgeborenen Person zu sprechen. Aber würde andererseits eine hochgeborene Person im Regen herumstehen, ohne dass eine Kutsche oder ein Diener in der Nähe war?
Ach, sei doch nicht so töricht und lasse dich von einer zufälligen Begegnung so aus dem Gleichgewicht bringen, schalt sie sich in Gedanken. Ihre Zukunft war ja ohnehin schon eine beschlossene Sache. Sie bestand in einer Vernunftheirat, dank derer die Mutter im Alter versorgt, Annabelle mit einer Mitgift ausgestattet und Johns Schulbesuch finanziert werden würde – alles Dinge, für die früher der Vater Sorge getragen hätte. Und es gab wohl niemanden, der alle diese Erwartungen erfüllen würde, außer Sir Arthur Thomas-Smith.
Wie mochte es wohl sein, eine Ehe mit ihm zu führen? Oh, sie konnte es sich gut vorstellen. Öde und eintönig – das wäre es. Eine tägliche Plackerei mit seinem Haushalt und seinen Töchtern, die Gastgeberin spielen bei langweiligen Abendessen und Whistrunden, hin und wieder ein solcher mit großer Freude erwarteter Vortrag wie der heutige und ein gelegentlicher ländlicher Tanz zur Aufheiterung, das wäre alles. Und was das Ehebett anbelangte … Doch da Lydia nichts über die Vorgänge in diesem Möbelstück wusste, ließ sie bei dieser Frage ihre Fantasie gänzlich im Stich.
Begeisterter Applaus riss Lydia aus ihren Gedanken. Betroffen musste sie feststellen, dass die Hälfte des Vortrags offensichtlich schon vorüber war, ohne dass sie auch nur ein einziges Wort davon vernommen hatte. Hastig schloss sie sich dem Klatschen der Zuhörer an.
“Im Nebenzimmer werden Erfrischungen angeboten”, sagte Annabelle, als sich ringsum alle erhoben und zu den Türen strebten. “Ich bin sehr durstig und habe gerade gesehen, wie Sir Arthur nach nebenan gegangen ist.”
“So? Wirklich?”, fragte Lydia verzagt. “Er geht also auch zu Vorträgen?”
“Ja, und das ist jetzt eine gute Gelegenheit für dich, mit ihm zu sprechen.”
“Und was soll ich ihm sagen? Soll ich vielleicht vor ihm niederknien und ihn bitten, mich zu heiraten?”
“Natürlich nicht, du Schäfchen. Aber du kannst dich ihm angenehm machen. Pass auf, da kommt er schon.”
Sir Arthur mit einer schlecht sitzenden Perücke und einer zu engen Weste über seinem Bauch eilte mit großen Schritten auf die jungen Damen zu und verneigte sich höflich vor Lydia. “Miss Fostyn, dürfte ich um das Vergnügen bitten, Euch zu begleiten?” Für einen Mann seiner Größe war seine Stimme überraschend hell.
Lächelnd reichte Lydia ihm die Hand. “Ich danke Euch für Eure Liebenswürdigkeit, Sir.”
“Mrs Fostyn ist heute Abend nicht hier?”
“Nein, sie ist ein wenig erschöpft. An ihrer Stelle hat mich meine Schwester begleitet. Darf ich Euch Annabelle vorstellen?”
“Sehr erfreut, Miss Annabelle.” Sir Arthur verbeugte sich mit einer so übertriebenen Artigkeit, dass Annabelle rasch den Fächer vor das Gesicht hielt, um ihr Amüsement zu verbergen.
Dann gingen sie zu dritt in den angrenzenden Raum, wo ein großes kaltes Büfett aufgebaut war. Sir Arthur entdeckte ein paar freie Sitzplätze an einem der kleinen Tische am Rande des Saales, und während sich die Schwestern dort niederließen, eilte er zum Büfett, um den jungen Damen einen Imbiss zu besorgen.
“Lydia, Lydia, da ist Peregrine Baverstock”, flüsterte Annabelle aufgeregt und wies mit dem Kinn auf einen jungen Mann in einem Rock aus rosa Satin und Schuhen mit hohen roten Absätzen, wie sie nur den Adligen vorbehalten waren. Er stand inmitten einer Gruppe junger Leute an der anderen Seite des Raumes.
“Baverstock? Meinst du den Sohn von Lord Baverstock?”
“Wen sollte ich denn sonst damit meinen?”
“Woher kennst du ihn denn?”
“Von Caroline Brothertons Geburtstagsfeier. Er war unter den Gästen. Oh, ich glaube, er hat mich entdeckt.”
Der junge Mann hatte in der Tat Annabelle erblickt und kam quer durch den Saal auf sie zu und machte eine höfliche Verbeugung vor ihr. “Guten Abend, Miss Annabelle.”
“Guten
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