Ballnacht in Colston Hall
eher erwartet, dass Lydia ihr Schwierigkeiten machte, aber nicht die kleine Annabelle. “Gehe doch mit, um Lydias willen. Sie kann nicht allein teilnehmen, und du möchtest sie doch sicher nicht um ihr Vergnügen bringen, nicht wahr?”
“Na gut, aber ich werde mich bestimmt zu Tode langweilen. Worum geht es denn eigentlich?” wandte sich Annabelle an die ältere Schwester.
“Der Titel ist ‘Mit Robert Clive in Indien’. Der Redner ist gerade von seinem langjährigen Aufenthalt bei der Ostindischen Compagnie zurückgekommen, und es wird bestimmt sehr interessant werden.” Insgeheim hatte sich Lydia schon mehrfach gefragt, ob nicht vielleicht der junge Mann, den sie neulich in Chelmsford getroffen hatte, den Vortrag halten würde. Schließlich konnte es doch kein Zufall sein, dass er unmittelbar vor der Veranstaltung eingetroffen war. Diese noch unbeantwortete Frage war das Interessanteste an dem bevorstehenden Ereignis für Lydia, denn sie wünschte sich sehr, den Fremden wiederzusehen, und sei es nur, um ihren Eindruck von ihm zu bestätigen oder zu korrigieren.
Ohne sich den Grund dafür einzugestehen, kleidete sich Lydia am folgenden Abend mit besonderer Sorgfalt an. Sie wählte ein Seidenkleid in modischem Senfgelb mit einem tiefen Ausschnitt, der zum Teil mit einem in der Mitte geknoteten schmalen Spitzenschal ausgefüllt wurde. Die Ärmel hatten breite bestickte Aufschläge. Wie die meisten ihrer Kleider hatte sie es mithilfe der Mutter selbst genäht, sodass sie auf diese Weise kostbarer und eleganter gekleidet war, als sie es sich eigentlich hätten leisten können.
Janet frisierte ihr das Haar und schmückte es mit zwei gekräuselten weißen Federn, die gerade groß in Mode waren. Ein Federfächer, der ebenfalls aus Mutters altem Koffer stammte, vervollständigte ihren Aufzug. Lächelnd betrachtete sich Lydia im Spiegel und stellte erfreut fest, dass sie gut aussah – bis auf die Schuhe. Zum Kleid passendes besticktes Schuhwerk mit bunt gefärbten Absätzen war für die Fostyns unerschwinglich, und so blieb nur zu hoffen, dass niemandem die einfachen, aber zweckdienlichen braunen Schuhe auffallen würden.
Partridge spannte das kleine gedrungene Pferd vor die schäbige Chaise und kutschierte die beiden Mädchen nach Malden. “Hoffentlich fährt er nicht direkt am Versammlungshaus vor”, flüsterte Annabelle. “Es wäre ja furchtbar peinlich, wenn uns jemand in diesem armseligen Gefährt sehen würde.”
“Warum?”, erwiderte Lydia belustigt. “Es kennt uns und unsere finanzielle Lage doch ohnehin jeder. Wozu sollten wir dann mehr hermachen wollen?”
“Nun, zum Mindesten sollten wir es auch nicht an die große Glocke hängen. Und gesetzt den Fall, der junge Earl wäre hier!”
“Er ist bestimmt nicht hier. Glaubst du, ihn interessiert ein Vortrag in einem kleinen Landstädtchen?”
“Warum hast du dann dein bestes Kleid angezogen? Ich dachte …”
“Du lieber Himmel, Annabelle! Ich würde mich doch nicht für diesen Schurken schön machen! Wie kommst du nur darauf? Ich hasse ihn für alles, was er angerichtet hat. Das weißt du doch.”
“Und warum dann?”, beharrte Annabelle. “Macht dir jemand den Hof?”
“Unsinn!”, entgegnete Lydia ärgerlich. “Es gibt niemanden dergleichen. Und das ist dir auch bekannt.”
“Was ist mit Sir Arthur?”
“Was soll mit ihm sein?”
“Mama meint doch, du solltest ihn dir angeln.”
“Was für ein gassenmäßiger Ausdruck! Ich werde nie so etwas tun. Und nun wollen wir dieses Thema beenden.”
Als sie am Versammlungshaus ausgestiegen waren, mischten sich die beiden Mädchen unter die in Kutschen oder auch zu Fuß herbeiströmenden Zuhörer. Im Saal herrschte fröhliches Stimmengewirr. Freunde begrüßten sich lachend oder tauschten Neuigkeiten aus. Doch als der Bürgermeister das Podium betrat und den Redner im Namen des Rates der Gemeinde begrüßte, trat atemlose Stille ein.
Lydia, die voller Spannung auf diesen Augenblick gewartet hatte, verzog enttäuscht die Lippen. Es war nicht, wie sie insgeheim gehofft hatte, der fremde junge Mann, der jetzt das Wort zu seinem Vortrag ergriff, sondern ein Mann in mittleren Jahren mit einem rötlichen Schnurrbart und einem stattlichen Leibesumfang, dem die Weste darüber bedrohlich spannte. Nun blieb ihr also nichts anderes übrig, als ein möglichst interessiertes Gesicht zu machen, derweil ihre Gedanken meilenweit entfernt zu einer regennassen Straße in Chelmsford wanderten.
Oh,
Weitere Kostenlose Bücher