Ballnacht in Colston Hall
bleiben könne, so lange sie wolle.”
“Mein Vater ist tot, Mr Falconer”, erwiderte Ralph. “Aber ich will nicht rücksichtslos sein. Geben Sie ihnen einen Monat.”
“Gewiss, Mylord.”
Später sagte sich Ralph, dass er wohl nicht so hart gegenüber den Fostyns gewesen wäre, wenn er sich nicht auf der Fahrt von Chelmsford die Vergangenheit wieder ins Gedächtnis gerufen und damit all seine Verbitterung und seinen Groll aufs Neue mit Leben erfüllt hätte. Aber mochte sich nun Mr Frederick Fostyn um seine Mutter kümmern. Schließlich war er noch sehr glimpflich davongekommen.
Es waren die Jahre im Exil, die den jungen Earl so gefühlsleer gemacht hatten.
2. KAPITEL
Die beiden Mädchen waren eifrig dabei, die letzte Hand an ihre Ballkleider zu legen, obwohl noch nicht feststand, ob das Siegesfest überhaupt stattfinden würde. Im Dorf ging das Gerücht um, der junge Earl sei heimgekehrt. Doch gesehen hatte ihn noch niemand.
“Ich sah heute Vormittag eine große Kutsche in die Einfahrt zum Herrensitz einbiegen”, hatte John am Abend zuvor berichtet. “Es war bestimmt nicht die vom alten Earl, denn die fiel ja schon fast auseinander.”
“Und hast du jemanden darin erkannt?” wollte Annabelle wissen.
“Nein. Wenn jemand in der Kutsche gesessen hat, dann hat er sich weit ins Dunkel zurückgelehnt.”
“Das muss ja nicht unbedingt der junge Earl gewesen sein.” Lydia hielt es zwar für möglich, hoffte aber nichtsdestoweniger, dass es nicht der Fall war, denn sie wollte Ralph Latimer nie mehr wiedersehen. “Vielleicht ist Mr Falconer, ihr Notarius, eingetroffen. Man sagt ohnehin, dass er im Gutshof viel zu tun habe, insbesondere wenn der junge Earl nicht wiederkommt.”
“Ach, ich glaube nicht, dass man einen Ball durchführen wird”, seufzte Annabelle, während sie den letzten Faden abschnitt und dann mit zur Seite geneigtem Kopf ihr Werk betrachtete. “Dabei würde ich so gerne dieses Kleid anziehen und darin die neuesten Tänze tanzen. Wie soll ich denn einen Mann finden, wenn wir nirgendwo hingehen? Caroline Brotherton wird die Saison in London verbringen.”
“Caroline Brotherton ist die Tochter eines Marquis”, erwiderte die Mutter ruhig. “Wir können an so etwas gar nicht denken.”
Annabelle hatte mit Caroline die Schule für junge Damen in Chelmsford besucht und war nach dem erfolgreichen Abschluss zu einer Geburtstagsfeier bei den Brothertons eingeladen gewesen. Seitdem sprach sie von nichts anderem mehr, und Lydia vermutete, dass auch ihr Gerede über Ehemänner aus dieser Quelle stammte.
“Das sehe ich überhaupt nicht ein.” Schmollend verzog Annabelle den Mund. “Susan ist doch während der Saison auch in London. Ich könnte bei ihr wohnen.”
“Liebling, auch wenn du bei deiner Schwester wohnen würdest, wäre ich doch nie in der Lage, dir all die Kleider und die Accessoires zu kaufen, die du in London benötigst. Und im Übrigen …” Die Mutter hielt inne, um nach den richtigen Worten zu suchen. “Wir gehören nicht zur Aristokratie, Kind. Und obwohl du sehr hübsch bist, würde man dich dennoch nicht beachten. Deshalb müssen wir uns unserem Stande gemäß verhalten. Andernfalls werden wir nur Enttäuschung und Kummer ernten, glaube mir.”
Die Worte waren mit einer so festen Überzeugung ausgesprochen worden, dass Lydia überrascht den Kopf hob und sich fragte, woher der Mutter wohl diese unerschütterliche Erkenntnis gekommen sein mochte. Aber vielleicht dachte sie dabei an die Freundschaft zwischen Freddie und Ralph Latimer und an das Leid, das daraus entstanden war.
“Wir sind aber auch keine gewöhnlichen Leute”, widersprach Annabelle. “Papas Familie ist eine der ältesten im Königreich, wie Großvater bei jeder Gelegenheit betont hat. Und Papa hatte ja auch einen Titel …”
“Aber du weißt auch, dass er nur der jüngere Sohn war, Kind”, fiel die Mutter ihr ins Wort. Der ältere Bruder des verstorbenen Pfarrers hatte zwar versprochen, der Witwe und ihren Kindern zu helfen, aber nur selten etwas von sich hören lassen. Tröstend legte sie ihrer Jüngsten die Hand auf den Arm. “Du kannst morgen mit Lydia nach Malden gehen zu dem Vortrag im Versammlungsraum. Ich bin zu müde, um sie zu begleiten, und so ist mein Platz für dich frei.”
“Einen Vortrag! Was habe ich denn von einem Vortrag? Ich bekomme davon schon zu Hause genug zu hören. Dafür muss ich nicht extra nach Malden gehen.”
Die Mutter unterdrückte ein Seufzen. Sie hätte
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