Ballnacht in Colston Hall
wie ein Blatt im Winde zu fühlen, ohne festen Boden unter den Füßen, ohne sicheren Hafen. Müde erhob sie sich und ging Janet entgegen, die mit wehender Schürze herbeigeeilt kam.
Eine halbe Stunde später lag Lydia im Bett. Janet hatte sie allein gelassen, aber sie wusste, dass ihr nur eine kurze Gnadenfrist vergönnt war. Früher oder später würde sie der harten Wirklichkeit ins Gesicht sehen müssen. Und diese Wirklichkeit hieß: Hochzeit mit Sir Arthur. Und Ralph Latimer, Earl of Blackwater, hatte den Mann ihrer Träume, der ihr in Chelmsford begegnet war, zu einem Fantasiegebilde, einem Hirngespinst werden lassen. Er war nicht länger …
Mitten in diesem Gedanken begann die beruhigende Wirkung von Wärme und Geborgenheit zu wirken, und Lydia fiel in einen tiefen Schlaf.
Als Janet am anderen Morgen die Gardinen zurückzog, drang heller Sonnenschein in das Zimmer. Lydia erhob sich und ging zum Fenster. Der Nebel hatte sich verzogen, und die feuchten Grashalme glitzerten im Sonnenlicht. Sie blickte zu dem Wald hinüber, der hinter dem Dachfirst der Ställe zu sehen war. Dort schienen die Bäume über Nacht alle ihre Blätter entfaltet zu haben. Er machte nun nicht mehr den Eindruck eines düsteren Versteckes von Schmugglern und einer Heimstatt von Geistern der Vergangenheit. Aber Ralph Latimer war kein Geist, sondern hielt sehr lebendig ihre Schicksalsfäden in der Hand.
Ach, sie musste ihn unbedingt aus ihren Gedanken verbannen. Aber wie sollte das gehen, wenn er sich hartnäckig allen solchen Versuchen widersetzte? Wenn sie an Sir Arthur dachte, hörte sie Ralphs abwertendes Urteil. Wenn sie an die Schmuggler dachte, stand er mit vorwurfsvoller Miene vor ihr. Und wenn sie sich Sorgen um die Mutter machte, waren sofort die schrecklichen Gerüchte da, der Kreis hatte sich geschlossen, und sie klagte ihn aufs Neue an wegen des zehn Jahre zurückliegenden tragischen Vorfalles. Es gab kein Entkommen. Er war allgegenwärtig, allmächtig, allwissend …
Annabelle riss die Tür auf und stürzte ins Zimmer. “Mama sagt, du bist krank, und wir können nicht auf den Ball gehen”, rief sie außer sich. “Oh, Lydia, wie kannst du mir das antun? Das sagst du doch nur, weil du so störrisch und boshaft bist. Gestern warst du noch munter wie ein Fisch im Wasser.”
Lydia seufzte. Es war wohl wirklich nicht gut, das Unvermeidliche aufschieben zu wollen. Wenn sie nicht zu dem Ball ginge, würde Sir Arthur es sich vielleicht anders überlegen – und was dann? Sie ließ sich auf der Bettkante nieder und betrachtete das verdrießliche Gesicht der Schwester. Arme Annabelle! Sie hatte ihr Herz an diesen Ball gehängt. Wie konnte sie ihr diese Freude zerstören?
“Es geht mir schon viel besser”, sagte sie ruhig. “Mache dir keine Sorgen, wir werden zu dem Ball gehen können.”
“Oh, oh, du bist ein Engel!” jubelte Annabelle und warf sich der Schwester an die Brust.
Lachend schob Lydia sie zur Seite. “Nun geh schon. Ich muss mich ankleiden. Und du tätest gut daran, dich zu beruhigen. Sonst denken Lord und Lady Baverstock, dass du zu exaltiert bist, um ihrem Sohn eine gute Frau zu sein.”
Glückstrahlend tänzelte Annabelle aus dem Zimmer, und Lydia blickte ihr wehmütig nach. Ein langer, langer Tag lag vor ihr und eine noch längere Nacht. Darüber hinaus wagte sie nicht zu denken.
Bereits am Nachmittag begannen die fieberhaften Vorbereitungen für das große Ereignis. Wasser wurde in dem großen Kessel über dem Herd gewärmt, damit die Mädchen ein Bad nehmen konnten, und dann saßen sie in der Leibwäsche vor ihren Toilettespiegeln und warteten darauf, dass Janet eine nach der anderen – einschließlich der Mutter – frisierte. Nun endlich konnten sie in ihre Gewänder schlüpfen, schlossen sich gegenseitig die zahllosen Häkchen und knüpften sich die Bänder. Punkt acht Uhr fuhr die Kutsche vor und jedes der Mädchen als Letztes in die seidenen Schuhe. Die Mutter setzte sich noch ihren mit hellgrauen Federn geschmückten Hut auf.
Das Mieder von Lydias gelbem Brokatkleid war mit goldenen und cremefarbenen Fäden bestickt, der Ausschnitt mit cremefarbenen Spitzen dekoriert, und von den halblangen engen Ärmeln fielen ebensolche Spitzenvolants auf die Unterarme. Der weite Rock hingegen trug keinerlei Schmuck. Die Einfachheit ihres Gewandes und die Art, wie ihre schmale Taille und ihr von der Korsage emporgehobener Busen betont wurden, gefielen ihr. Die verbliebenen Kratzer waren von einer
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