Ballnacht in Colston Hall
Lippen geküsst worden, hatte sie wild und brennend auf ihrem Mund gespürt … und leidenschaftlich. Selbst hinter seiner Rücksichtslosigkeit hatte sie es gespürt – und auch ihre flammende Antwort darauf. Liebe und Hass waren auf einmal zu untrennbaren Bestandteilen ihrer aufbrausenden Gefühle geworden – so ineinander verwoben, dass sie sie nicht mehr trennen konnte.
Endlich erreichte sie die alte Straße aus der Römerzeit, stand nach wenigen Minuten vor der Tür von Mistress Greys Häuschen und hämmerte fast besinnungslos gegen das grün gestrichene Holz. Was sollte sie der alten Frau sagen? Wie sollte sie ihren aufgelösten Zustand und den ihrer Kleidung erklären?
“Lydia!” Freudestrahlend stand Mistress Grey auf der Schwelle. Sie war klein und korpulent, fast so breit wie hoch, und reichte ihrer Besucherin kaum bis zur Schulter. Ihre vollen rosigen Wangen bedurften keiner Schminke, und ihr weißes Haar hatte genau die Farbe, die man in diesem Alter als naturgegeben erwartete. Sie raffte ihre raschelnden schwarzen Taftröcke, um beiseite zu treten und das Mädchen einzulassen, doch plötzlich erlosch ihr einladendes Lächeln. “Was um alles in der Welt ist mit dir geschehen, Lydia?”
Schluchzend sank Lydia in ihre Arme, und die alte Frau führte sie behutsam zum Sofa, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. “Mein armer Liebling! Beruhige dich. Niemand wird dir hier etwas zuleide tun.”
“Oh, es war so schrecklich”, jammerte Lydia und schmiegte sich an die Schulter ihrer alten Lehrerin. “Ich dachte, er …”
“Er? Hat dich ein Mann überfallen? Komm, erzähle mir alles, und dann werde ich dafür sorgen, dass er bestraft wird.”
Bestraft? Habe ich ihm nicht angekündigt, dass er bestraft werden wird, dachte Lydia. War das die Möglichkeit, Rache zu nehmen? Wie wundervoll, wie befriedigend würde es sein. Sie brauchte nur seinen Namen zu nennen und der Welt ihren Zustand zu präsentieren. Alles andere würde sich dann von selbst ergeben, und Ralph Latimer wäre für immer erledigt.
Aber konnte sie das wirklich tun? Nein, nein, die Mutter hatte recht. Die Rache lag in Gottes Hand. Aber sie hoffte, oh, sie hoffte so heiß, dass sie darauf nicht mehr lange warten musste. Sie hob den Kopf und lächelte müde. “Ach, das ist eine lange Geschichte …”
“Nun, dann mache ich dir erst einmal einen guten Kräutertee zur Beruhigung.” Die alte Frau stand auf, um in die Küche zu gehen. “Aber dann erzählst du mir alles, hörst du? Die ganze lange Geschichte. Ohne etwas auszulassen.”
Und so saß Lydia dann wenig später im Unterrock neben dem Kamin und erzählte stockend ihre Erlebnisse, während die Alte sich bemühte, so gut wie möglich die Risse in dem Kleid zu stopfen, und noch eine Weile schwieg, nachdem ihre Besucherin geendet hatte. Schließlich sagte sie: “Lydia, meine Liebe, du kannst Recht und Unrecht selbst unterscheiden und erwartest sicher keinen Rat von mir. Tue also, was recht ist.”
“Ja!” Lydia nickte heftig, erhob sich und schlüpfte in ihr Kleid, das einigermaßen gesäubert und nicht mehr zerrissen war, aber immer noch genug Anzeichen dafür trug, dass ihr ein Missgeschick zugestoßen sein musste. “Was soll ich nur Mama sagen?”
“Dass du über eine Wurzel gestolpert und hingefallen bist – mehr nicht. Deine arme Mutter hat ohnehin genug Sorgen.”
Dankbar umarmte Lydia die Alte zum Abschied und eilte nach Hause. Zum Glück begegnete ihr niemand auf dem Weg, und es gelang ihr auch, ungesehen durch die Hintertür ins Haus zu schlüpfen. In ihrem Zimmer wusch sie sich rasch, zog andere Schuhe und ein blaues Musselinkleid mit langen Ärmeln, Spitzenmanschetten und einem hohen Kragen an, um die meisten der hässlichen Kratzer zu verdecken. Dann holte sie tief Atem und ging ins Wohnzimmer hinunter, um den Urteilsspruch über ihr weiteres Schicksal entgegenzunehmen.
Sir Arthur hatte sich bereits wieder empfohlen, und nur die Mutter saß, mit Nadel und Faden über Annabelles Ballkleid gebeugt, am Fenster. Bei Lydias Eintritt legte sie die Näharbeit zur Seite.
“Lydia, wo bist du nur gewesen? Sir Arthur wollte sich von dir verabschieden, aber du warst nirgends zu finden. Ich sah mich deshalb gezwungen, dich mit Kopfschmerzen zu entschuldigen.” Sie warf einen prüfenden Blick auf die Tochter. “Wo kommt denn diese Schmarre auf deiner Wange her?”
Lydia hatte einen Stuhl neben den Kamin gerückt und hielt ihre kalten Hände in die Nähe des Feuers.
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