Ballsaison: Palinskis siebter Fall
fünf Uhr morgens. Langsam wurde es nicht nur hell draußen, sondern auch höchste Zeit für Palinski, endlich schlafen zu gehen.
* * *
Harry Bachler und Florian Nowotny hatten gestern noch lange miteinander gesprochen. Und der gut entwickelte kriminalistische Instinkt des Jusstudenten im Solde Palinskis hatte ihm gesagt, dass sich da möglicherweise etwas anbahnte. Die Recherchen in der legendären Datenbank ›Crimes – Facts and Ideas‹ hatten zwar keinerlei ernsthafte Hinweise auf Verbrechen mit Gummistiefeln ergeben, aber jede Menge zum Suchwort Kinder. Kinder als Opfer, Kinder als Täter und Kinder als Handlanger, Werkzeug.
Aber solange nicht feststand, was da eigentlich beim Stephansdom und dem Rathaus abgelaufen war, war jeder weiter gehende Gedanke reine Spekulation und daher Zeitverschwendung. Möglicherweise gab es ja eine völlig harmlose Erklärung für diese Vorfälle. Bloß, den beiden war keine eingefallen.
So waren sie übereingekommen, dass sich Harry heute auf Recherche begeben und Florian mittels Handy laufend über die aktuelle Entwicklung informieren sollte.
Also hatte sich Harry bereits kurz nach halb neun wieder in der Nähe des Haupttors aufgebaut. Absolut diskret, wie er überzeugt war, beobachtete er die Menschen, die den Stephansdom nach der Perlustrierung durch die Polizei betreten durften.
Aber zunächst einmal tat sich gar nichts. Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, und seine Aufmerksamkeit ließ mit der Zeit bedenklich nach.
Kurz vor 10.00 Uhr war er mit der Beobachtung einer Gruppe skandinavischer Studentinnen ausgelastet, die in knappen Tops, engen Röcken und wehenden blonden Haaren über den Platz schlenderten.
Nachdem er den plötzlichen Aufruhr seiner Hormone wieder unter Kontrolle gebracht und seinen Blick neuerlich auf den Dom konzentriert hatte, konnte er gerade noch zwei Paar gelbe, von zwei kleinen Buben getragene Regenstiefel durch das Riesentor verschwinden sehen. Seine erste, fast panische Reaktion war, den Stiefeln zu folgen und in den Dom zu stürmen. Doch die aus gut 50 Personen bestehende Schlange vor der Polizeikontrolle ließ ihn diesen Impuls zwangsläufig wieder unterdrücken.
Also wartete er weiter ab, konzentrierter als zuvor, um den Moment nicht zu versäumen, in dem die beiden Knaben das riesige Gotteshaus wieder verlassen würden. Mit oder ohne ihr gelbes, dem Wetter so absolut nicht entsprechenden Schuhwerk.
Etwa 20 Minuten später schienen sich die Ereignisse zu überschlagen. Nachdem Harry Florian Nowotny wie vereinbart einen Zwischenbericht geliefert hatte, wollte er sich rasch einen Espresso in einem gegenüberliegenden Stehcafé genehmigen. Kaum hatte er den ersten Schluck des siedend heißen Gebräus zu sich genommen, als die Familie mit den beiden Knaben wieder auftauchte. Beide hatten zu Harrys größter Überraschung ihre Stiefel noch ganz genau so an den Füßen wie vor einer halben Stunde. Was hatte das wieder zu bedeuten, ging es dem Hobbydetektiv durch den Kopf. Hatte er sich das gestern alles nur eingebildet oder die Eltern die Sportschuhe der Kleinen zu Hause vergessen? Oder was war sonst los?
Während er noch überlegte, was er nun tun sollte, sah er plötzlich das kleine Mädchen von gestern wieder. Die, die ihm beim Rathaus einen scheuen Gruß zugesandt hatte. Sie kam mit ihren Eltern und zwei weiteren Kindern aus der Konditorei Aida an der Ecke und stellte sich brav in die Schlange der auf Einlass in den Dom wartenden Menschen. Und alle drei Kinder steckten wieder in Gummistiefeln, zwei in gelben und der kleine Bub in grünen.
Jetzt gab es für Harry kein Halten mehr. Er eilte, nein, er stürmte fast über den Platz und reihte sich vier Wartende hinter der Familie in die immer länger werdende Schlange ein. Jetzt wollte auch er sich im Dom umsehen, das erste Mal in seinem Leben übrigens.
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Sabine Pleschke war schon fast 13 Jahre alt und Schülerin am Gymnasium ›In der Wüste‹. Ulrike Pleschke, ihre alleinerziehende Mutter, arbeitete als Helferin bei einem Osnabrücker Zahnarzt und daneben noch drei Mal pro Woche als Bedienung in einer Kneipe. Gott sei Dank war sie nicht wirklich ganz alleine, denn Großmutter Else ergänzte das normalerweise fröhliche Trio, das ein kleines Haus in Harderberg bewohnte. Und das machte das Leben schon um einiges einfacher.
Sabines Vater wusste nichts von seiner hübschen Tochter, da sich seine ehemalige Freundin damals und bisher standhaft geweigert
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