Ballsaison: Palinskis siebter Fall
den Zeitungen der letzten Tage bequem.
Am Montag und Dienstag hatte er offenbar nicht allzu viel verpasst in Wien. Zumindest nicht aus seiner Sicht.
In der Mittwochausgabe der meisten Blätter war aber ein kurzer Bericht über einen ›Toten im Schlafwagen‹, einen gewissen Arthur M. aus Wien, den man im Zürcher Hauptbahnhof tot aufgefunden hatte. Irgendetwas meldete sich plötzlich mittelheftig in Netuschils biologischer Registratur und drang nach Registrierung des Reizwortes Schiedsrichter in dem ausführlicheren Bericht der Donnerstagausgabe machtvoll ins Freie. Das war doch der Mann, der am Freitag vor einer Woche bei ihm gewesen und ein Schreiben hinterlegt hatte. »Im Falle meines Todes innerhalb der nächsten Woche bitte der Polizei übergeben« stand auf dem Umschlag und hatte den Notar zur Annahme veranlasst, dass es sich bei dem Klienten um einen Paranoiker handeln musste.
So konnte man sich irren, ging es Netuschil ein wenig schuldbewusst durch den Kopf. Der arme Teufel musste seinen Tod vorhergesehen oder zumindest eine Ahnung gehabt haben. Was wohl in dem Brief stand? Einen Moment lang war er versucht, ganz einfach nachzusehen. Dann ermahnte er sich streng zur Ordnung, stand auf, ließ seinen Pfefferminztee Pfefferminztee sein, holte das Schreiben aus dem Tresor und suchte die Rufnummer des zuständigen Kommissariats heraus.
* * *
Die Zeiten meinten es nicht gut mit Liebenden im Polizeidienst. Als Franca Wallner kurz nach acht die Wohnung verließ und sich auf den Weg zum Koat Josefstadt machte, schlief ihr Göttergatte Helmut noch tief und fest. Kein Wunder, der Oberinspektor war dienstlich am Presseball gewesen und erst gegen halb vier ins Bett gekommen.
Obwohl sich ihr Verdacht, dass der Fall Mellnig irgendwie mit dem des Schweizer Architekten Immenseh zusammenhing, nach dem gestrigen Abend verdichtet hatte und sie daher dringend mit ihrem Mann sprechen musste, wollte sie ihn jetzt nicht wecken. Erstens nutzte ein unausgeschlafener Oberinspektor niemandem, und zweitens wollte sie ihre Vermutung nach Möglichkeit noch absichern.
In ihrem Büro angelangt, setzte sie sich sofort mit Beat Vonderhöh in Zürich in Verbindung und informierte ihn über die aktuellen Entwicklungen.
»Darf ich Sie noch um etwas bitten, das nicht unmittelbar mit diesem Fall zu tun hat ?« , wollte Franca abschließend wissen. Und Vonderhöh sah keinen Grund, der charmanten Wiener Kollegin diesen Gefallen zu verweigern.
»Es geht um den Mord am Architekten Urs Immenseh, der am Dienstagabend in Wien schwer verletzt aufgefunden worden und auf dem Weg ins Krankenhaus verstorben ist«, erklärte sie. »Ich nehme an, dass mein … zuständiger Kollege deswegen mit Ihrem Kollegen in St. Gallen bereits Kontakt aufgenommen hat. Es gibt jetzt Anzeichen dafür, dass möglicherweise eine Verbindung zwischen diesem und unserem Fall besteht .« Sie holte tief Luft. »Glauben Sie, dass Sie mir ein Foto der Frau des Architekten, Evelyn Immenseh, zufaxen oder übers Internet zusenden können ?«
Vonderhöh lachte leicht gönnerhaft. »Aber gerne, Frau Kollegin. Das ist überhaupt kein Problem. Man hilft doch gerne, wenn man kann, odr ?«
* * *
Innerhalb weniger Sekunden verwandelte sich das pulsierende Leben am Stephansplatz mit den hunderten Einheimischen und Touristen, die hier flanierten, ihre Besorgungen machten oder den Dom besuchen wollten, in das reinste Chaos. Es war exakt 9.22 Uhr, als Teile der auf der linken Seite des riesigen Gotteshauses befindlichen Dombauhütte mit einem lauten Knall in die Luft flogen. Da es Samstag war, hatte sich Gott sei Dank kein Mensch in den Räumlichkeiten befunden. Allerdings gingen die Pferde zweier nur wenige Meter daneben wartender Fiaker durch und galoppierten unkontrolliert durch die Rotenturmstraße. Der Kutscher des ersten Gefährts hatte einen herabstürzenden Holzbalken an den Kopf bekommen und hing halb bewusstlos auf seinem Bock. Der zweite Fiaker, der eben kurz ausgetreten war, blickte nun fassungslos seiner in flottem Tempo Richtung Hohem Markt verschwindenden Kutsche nach.
Während die Menschen am Platz schreiend umherliefen, nach Verwandten und Freunden Ausschau hielten und vergebens versuchten, zu begreifen, was da eigentlich geschehen war, fand der Wahnsinn im Dom seine Fortsetzung.
Als sich eine Gruppe estnischer Katholiken anschickte, bei einem der Seitenaltäre demutsvoll einige Kerzen anzuzünden, flogen die aus Semtex täuschend echt nachgemachten
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