Baltrumer Bitter (German Edition)
aufhorchen
ließ. Er folgte dem lauten Krächzen bis zu einer Stelle, an der ein paar
vergessene Büsche einen halb verfallenen Jägerzaum gnädig verdeckten. Zwei
dicke Krähen flogen auf, missmutig schimpfend ob der Störung. Ein hellblaues
Hemd, durchzogen von roten Flecken, leuchtete ihm von einer freien Stelle
zwischen Zaun und Bewuchs entgegen. Noch einmal bog er einen dicken Strauch zur
Seite. Der Mann lag auf dem Rücken, die Arme standen vom Körper ab und sein
Kopf klemmte unnatürlich verdreht zwischen zwei dicken Baumwurzeln. Luiken
konnte eine tiefe Wunde am Hinterkopf des Mannes erkennen. Die Haare waren von
Blut verkrustet. Die Krähen hatten ganze Arbeit geleistet. Ihre scharfen
Schnäbel hatten tiefe Kerben in die Haut geschlagen, an manchen Stellen war das
Fleisch bis auf die Knochen herausgerissen. Auf Hose und Hemd hatten die Vögel
weiße Kotflecken hinterlassen. Dieser Mann war tot, daran gab es keinen
Zweifel. Luiken überlief es kalt. Kein Wunder, dass der Junge völlig verstört
war, wenn er wirklich beim Spielen den Toten entdeckt hatte.
Als er zurück zu dem Kleinen kam, bog der Krankenwagen mit der
Ärztin gerade um die Ecke. Er dankte der Frau, die sich so rührend um das Häuflein
Elend gekümmert hatte, und bat sie um ihre Personalien. »Wir müssen sicher noch
einmal mit Ihnen reden«, erklärte er. Dann nahm er den Jungen hoch und brachte
ihn zum Krankenwagen. Der Kleine zitterte in seinen Armen wie Espenlaub. Er
dachte an seine eigenen Söhne, zu Hause in Upgant-Schott. Der jüngere, Tim, war
im gleichen Alter wie das Kind, das sich angstvoll an sein Uniformhemd
klammerte. Er musste unbedingt in Erfahrung bringen, wie es hieß. Die Eltern
mussten verständigt werden.
Als die Ärztin aus dem Auto gestiegen war, unterrichtete er sie
über die Lage.
»Ich werde einen Blick auf
den Toten werfen, mich dann mit dem Jungen befassen. Maik kümmert sich so lange
um ihn.« Sie winkte dem Mann am Steuer des KTWs zu.
Berend Luiken nickte. Er würde seine Kollegen verständigen und
den Fundort der Leiche absichern.
*
Dr. Neubert hatte den Tod des Mannes festgestellt. Jetzt
galt es, sich um die Lebenden zu kümmern. Maik Bernhardt saß hinten im
Krankenwagen, den kleinen Jungen neben sich. Mit ruhiger Stimme versuchte er,
Kontakt zu dem Kleinen aufzunehmen, der immer noch herzzerreißend schluchzte.
»Sag mir bitte deinen Namen. Du weißt ihn doch, oder?«, fragte er freundlich.
Das Weinen des Jungen ließ ein wenig nach, aber noch immer sagte er nichts.
Die Ärztin strich ihm leicht über den Arm. Immer wieder und
immer wieder. Dann plötzlich sah der Junge sie fahrig an, schluckte ein paarmal
und sagte mit heller kleiner Stimme: »Nico.«
Das war ein Anfang. Einen Moment wartete Maik Bernhard, dann
versuchte er es erneut. »Nico, wie heißt du mit Nachnamen, und wie heißt das
Haus, in dem du wohnst? Also hier auf Baltrum, meine ich.«
Der Junge hatte die Augen geschlossen. Seine kleine Schulter zuckte
unkontrolliert.
»Bitte, Nico, sag mir deinen Nachnamen. Wir wollen deinen
Eltern Bescheid sagen.«
»Mussels«, flüsterte der Junge.
Die Inselärztin beugte sich dicht über ihn. »Noch einmal.
Bitte. Ich habe dich nicht verstanden.«
Die Sorge in der Stimme der Ärztin schien im Inneren des Jungen
anzukommen. Noch immer lag er mit geschlossenen Augen in den Armen des Mannes,
aber dann sagte er klar und deutlich: »Mussels. Und meine Eltern wohnen im Haus Strandlust . Aber die haben gesagt, ich darf alleine rausgehen. Ich habe
Räuber gespielt und mich versteckt.« Er fing verzweifelt wieder an zu weinen.
»Schon gut, Nico. Du hast nichts verkehrt gemacht. Deine Eltern
auch nicht. Hier auf der Insel laufen alle Kinder einfach so rum. Warte nur ab.
Gleich kommen deine Eltern. Ich rufe sie jetzt an.«
Dr. Neubert stieg aus dem
Fahrzeug und wählte die Nummer der Pension. Sie sah, dass auch Berend Luiken
sein Telefon am Ohr hatte. Vermutlich machte er gerade seine Kollegen mobil und
forderte von der Feuerwehr Flatterband zum Absperren des Leichenfundortes an.
Er selbst würde sich aus dem Tarzanwald nicht mehr wegbewegen, bis die Leiche abtransportiert
werden konnte.
Sie rief den Besitzer des Hauses Strandlust an und bat
ihn, seine Gäste zu benachrichtigen. Als sie wieder in den Krankenwagen stieg,
hatte Maik Bernhard seine Arme noch immer fest um den Jungen gelegt.
»Nico, deine Mama und dein Papa sind gleich hier.«
»Aber Opa nicht«, erwiderte der Junge leise.
»Ist dein Opa
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