Bamberger Verrat
nicht mehr ertragen. Ich glaub, er hat erst im Westen gemerkt, dass an unserem System etwas faul war, dass diese Grenze vor allem gegen die eigenen Leute gerichtet war und dass seine Arbeit an dieser Grenze falsch war. Aber wenn diese Geschichte mit der Jagderlaubnis nicht gewesen wäre, er wäre bestimmt nie fortgegangen. Er hat so an seiner Heimat gehangen. Und Mutti genauso. Sie war einfach zerrissen zwischen ihrem Wunsch, wieder mit Vati zusammen zu sein, und dem Wunsch, in Willersdorf zu bleiben. Und dann hat Vati eines Tages geschrieben, jetzt hätte er genug, sie brauche nicht mehr zu kommen. Sie war total verzweifelt, hat nur noch geheult, und Oma, die das nicht mehr aushielt, hat gesagt, sie soll zu ihrer Schwester nach Zierendorf fahren und sich dort ausheulen. Und ausgerechnet in dieser Situation muss sie auf dieses Schwein treffen, das die Stasi auf sie angesetzt hatte. âºOnkel Hansâ¹ hab ich den mal genannt, als ich ganz klein war. Das muss man sich mal vorstellen! Der Mensch war seit Kindertagen mit meinem Vater befreundet, und dann geht er hin und tut im Auftrag der Stasi alles, um ihn in die Falle zu locken. Immer wieder hat mir meine Mutter später die Geschichte erzählt, wie er sie angesprochen hat im Bahnhof, wo sie auf den nächsten Zug gewartet hat, wie er ihr versichert hat, ihr helfen zu wollen, und dass er auch in den Westen wolle und dann auf die Hilfe meines Vaters baue. Und er hat ihr schöngetan.«
Lieselotte Stolz schob ihren Kuchenteller beiseite und wischte sich mit der Serviette mehrmals über den Mund. Als sie weitersprach, klang sie, als wolle sie sich selbst etwas verständlich machen. »Man muss sich das vorstellen: Das war ja das erste Mal seit Monaten, dass jemand sie wie einen Menschen behandelt hat und wie eine Frau. Und dabei war jeder Schritt, den er getan hat, jedes Wort mit der Stasi abgesprochen und geplant. Das kam bei diesem Prozess in Bamberg heraus. Sie haben ihm vorgeschrieben, was er zu ihr zu sagen hat und was er antworten soll, wenn sie dies sagt, und was, wenn sie das sagt. Das muss man sich mal vorstellen! Unglaublich! Und das alles für ein paar hundert Mark! Wie tief kann ein Mensch nur sinken!«
Die Stimme von Lieselotte Stolz war schrill geworden. »Und dann kriegt dieses Schwein dafür nur Bewährung. Bewährung! Wie sollte der sich denn bewähren? Die Grenze war doch nicht mehr da und die Stasi auch nicht!« Sie biss sich auf die Fingerknöchel, doch die Tränen flossen trotzdem. »Das hat mich meinen Glauben an die Gerechtigkeit gekostet. Ich hatte so auf das berühmte Rechtssystem der BRD gehofft und dann das. Ich hab diesem Dreckskerl die Pest an den Hals gewünscht. Und ich tu es noch immer.«
Kunigunde kannte die Gründe, warum das Gericht, eben aus rechtsstaatlichen Gründen, nicht anders hatte entscheiden können, aber angesichts von Lieselottes wütender Trauer wäre es ihr unpassend vorgekommen, sie zu zitieren.
Stattdessen sagte sie: »Und doch haben Sie Hans Kromm Erste Hilfe geleistet damals im Gerichtssaal. Das ist so groÃartig â¦Â«
»Nein«, widersprach Lieselotte Stolz. »Ich hab hinterher oft darüber nachgedacht, warum ich das gemacht habe. Und wenn ich ganz ehrlich bin, ich glaube, es war eher Hochmut als Edelmut. So eine Kreatur sollte mich nicht abhalten, das zu tun, was ⦠was anständig ist. Ich wollte ⦠ich wollte einfach ein Mensch bleiben.« Sie ballte die Fäuste. »Das lass ich mir von niemandem wegnehmen. Von niemandem! Ich will nicht so werden wie meine Halbschwester. Rita ist vom Hass ja wie zerfressen. Die lebt doch fast nur für ihren Hass.«
Kunigunde war erstaunt. Als sie vor vierzehn Tagen mit Rita Gerstner gesprochen hatte, war ihr nichts Derartiges aufgefallen.
Sie wollte eine entsprechende Bemerkung machen, aber Lieselotte Stolz sprach bereits weiter: »Die arme Rita kann eigentlich gar nichts dafür. Onkel Wilhelm hat sie ja so aufgezogen, im Hass auf den Verräter â er sprach von Hans Kromm immer nur als von dem âºVerräterâ¹ und das oft. Ich glaube, er hat all seinen Frust und all seine Trauer über den Tod seines Bruders in dieses Kind gestopft. Und na klar â das hat Folgen. Normalerweise hat sich Rita ja gut unter Kontrolle, aber wenn sie mal ausrastet, ist sie ⦠ist sie zum Fürchten.«
Lieselotte Stolz atmete in einem groÃen, sorgenvollen
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