Bambule am Boul Mich
Rue Valette, auf der Höhe
der Montagne Sainte-Geneviève.“ Mit einem Fenster zur Straßenseite hin kann man bei rechts gewendetem Blick zur
Seine und die Kathedrale Notre-Dame hinabschauen, links hinauf sieht man die
monumentale Kuppel des Pantheon .
Die heilige Genoveva ist die
Schutzpatronin der Stadt. Ihre Gebeine wurden in einer der eigenartigsten und
dabei schönsten Kirchen von Paris beigesetzt, der St. Etienne-du-Mont, die auch
die Herren Blaise Pascal und Jean Racine aufnahm. Die trügerisch ewige Ruhe der
Heiligen erfuhr während der bewegten Jahre der Revolution jedoch eine jähe
Unterbrechung, als frevelhafte Grabschänder den Steinsarkophag leerten und den
Inhalt in die Seine kippten. Lediglich ein Zeigefinger der ehrwürdigen Dame
entging dem Raubzug der Bösewichte und eben jenes Fingerglied dient nun als
Wallfahrtsziel frommer Pilger in einem prunkvoll hergerichteten
Reliquienschrein. Die Kirche St. Etienne du Mont, die den Eindruck erweckt, als
hätten sich ganze Generationen von Architekten an ihr versucht, ist übrigens
die einzige Kirche von Paris mit einem Lettner aus der Zeit der Renaissance.
Auch das Pantheon war zunächst
ein Gottestempel, aber nur wenige Jahre. Den Kirchenfeindlichen Jakobinern
stand der Sinn nach einer Ruhmeshalle für ihre vermeintlich Unsterblichen. Eine
Idee, die knapp hundert Jahre später wieder angegriffen wurde und da es sich
damals gerade so begab, daß mit Victor Hugo ein nationaler Literatur-Heros das
Zeitliche gesegnet hatte, galt dies als willkommener Anlaß, den alten Traum der
Republikaner in die Tat umzusetzen. Gar mancher der postum Umgebetteten hätte
sich den Umzug aus den luftigen Totenparks von Père Lachaise oder vom Cimetière
de Montmartre wohl gern verbeten, und der deutsche Schriftsteller Karl Gutzkow
notierte während einer Paris-Reise sicher nicht zu Unrecht: „Voltaire würde nie
diese dunklen Gewölbe für seine Gebeine als Ruheort gewählt haben...
fröstelnder Gedanke hier unsterblich zu liegen!“
Von Voltaire und Rousseau, von
Hugo, Zola und ein paar anderen abgesehen muß man Gutzkow wohl auch recht geben
mit seiner Behauptung: „Die wahren Größen Frankreichs wird man im Panthéon
vergebens suchen.“
Talleyrand hat es noch
sarkastischer formuliert: „In Ermangelung großer Männer setzt man Beamte ins
Panthéon.“
An all die großen Frauen der
französischen Geschichte hatten die Machos der Republik wohl nicht gedacht, da
im Fries der Säulenhalle „aux grands hommes, la Patrie reconnaissante“ (den
großen Männern, das dankbare Vaterland) geschrieben steht. Wobei im deutschen
aus der weiblichen patrie ja nicht etwa das Mutter-, sondern das Vaterland
wird.
Aber die Franzosen haben
wenigstens ihre Marianne, der wird nur einen Michel entgegenzusetzen haben.
Das führt uns natürlich weit
weg von Nestors Spuren und der Bambule am Boul ,Mich’ , wie der Boulevard St. Michel seit eh und jeh in Paris genannt wird. Am nicht
weiter bemerkenswerten Denkmal für die Chemiker Pelletier und Caventou bin ich
unzählige Male mit der Buslinie 38 vorbeigefahren, ohne daß es mir jemals
aufgefallen wäre.
Aber da oben, im dritten Stock,
läßt sich ohne weiteres die Wohnung eines gutverdienenden Arztes hindenken.
„... führte der Arzt mich in
eine weiträumige, luxuriös ausgestattete Bibliothek.“
Der Boul
,Mich’ ist hier aus den lauten und lebhaften Niederungen zwischen der
Seine und dem Boulevard St. Germain hinaufgestiegen. Er hat den bereits ins
benachbarte sechste Arrondissement reichenden Jardin du Luxembourg hinter sich
gelassen und das Musée de Cluny, ein spätgotisches Stadtpalais, das heute
mittelalterliches Kunsthandwerk und eine einmalige Sammlung von Wandteppichen
zeigt, darunter auch die Dame mit dem Einhorn. Und weiter unten liegt auch die
Sorbonne. Von der fiktiven Praxis des Dr. Leverrier sind es nur noch ein paar
Schritte zum Boulevard de Port Royal und dem dort beginnenden 14.
Arrondissement.
Wer hier Burmas Spuren verloren
haben sollte, mag in seiner Phantasie Hemingway wiederfinden. Der saß nämlich
nicht nur gern an der Place de la Contrescarpe, sondern noch viel lieber in der
„Closerie des Lilas“. Die ehemalige Postkutschenstation wurde nach der
Jahrhundertwende und bis in unsere Tage einer der beliebtesten literarischen
Treffpunkte der Stadt. In gewisser Weise, notierte Hemingway, waren solche
Cafés Vorgänger der Klatschkolumnisten — täglicher Ersatz für die
Unsterblichkeit.“
Peter
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