Bambule am Boul Mich
entfesselt. Sie schlug wie eine Wilde um sich. Endlich konnte ich sie
bändigen und entwaffnen. Dann gab ich ihr ein paar saftige Ohrfeigen. Ich
schäme mich, es einzugestehen, aber das tat mir richtig gut. Ihr übrigens auch,
schien mir. Ihre Augen glänzten eigenartig. Bei dem Kämpfchen war ihr Pelzcape
aufgegangen und ihr Abendkleid verrutscht oder eine Naht aufgeplatzt.
Jedenfalls kam eine Brust zum Vorschein, nackt, fest, bebend. Nicht eine
Sekunde dachte sie daran, ihre Toilette wieder in Ordnung zu bringen. Also
spielte ich die Kammerzofe, nahm die beiden Enden des Pelzcapes, knöpfte sie zu
und schüttelte alles, Behälter und Inhalt.
„Verschwinden Sie“, sagte ich.
„Egal, ob Sie seine Komplizin sind oder unschuldig. In den letzten Tagen war
Ihr Freund nicht mehr derselbe. Er hatte seltsame Besuche... Van Straeten...
und Sie haben sich Sorgen um ihn gemacht. Das erklärt Ihren Wutausbruch hier.
Wenn Sie seine Komplizin sind, wird die Polizei Sie schon finden. Nicht mein
Bier. Verschwinden Sie!“
Ich schob sie zur Tür, und sie
ging ganz benommen raus, wieder ruhiger geworden. Was eine Ohrfeige so alles
bewirken kann! Sollte irgendein Mechanismus in ihrem hübschen leeren Köpfchen
die grauen Zellen in Bewegung gesetzt haben? Wütend beförderte ich mit dem Fuß ihren
Revolver unter den Schrank. Alles und alle kotzten mich an.
„Monsieur Burma“, sagte ein
dünnes Stimmchen hinter mir.
Leverrier war nicht mehr
wiederzuerkennen.
„Hier“, sagte er.
Er gab mir ein paar Banknoten.
„Ich hatte noch hunderttausend
Francs in der Schublade. Legen Sie sie zu den andern.“
Wortlos strich ich das Geld
ein. Dann hob ich den Revolver auf, mit dem mich der Arzt vorhin bedroht hatte.
Während meiner demonstrativen Verhandlung war er in die Ecke geflogen
. Ich kontrollierte, ob er schußbereit war, und legte ihn vor Leverrier
auf den Tisch.
„Danke, für Jacqueline“, sagte
ich. „Das ist alles, was ich Ihnen als Gegenleistung anbieten kann.“
Ich drehte mich um und ging
gelassenen Schrittes zur Tür, wie ein Handwerker, der froh ist, den Arbeitstag
beenden zu können.
Langsam ging ich die Treppe
runter. Im Haus war es ganz still. Die Mieter schliefen.
Auf einem Treppenabsatz stürmte
mir eine Gruppe Flics entgegen. An der Spitze Florimond Faroux. Als er mich
sah, fuhr er auf.
„Nestor Burma!“ schrie er.
„Verdammt nochmal! Was machen Sie denn hier?“
„Und Sie? Sondereinsatz mit
Sondergenehmigung?“
„Zum Donnerwetter! Der Arzt
wird seit heute abend überwacht. Wir haben seinen Wagen identifiziert. Einer
von unseren Leuten hat das Haus observiert. Eben ist ein Schuß gefallen. Er hat
uns alarmiert, und hier sind wir. Mit oder ohne Sondergenehmigung...“
Ich hob die Hand und bat um
Ruhe. Fünf Sekunden später hörte man einen Knall, wie von sehr weit weg.
„Ich habe ihm eine
Sondergenehmigung erteilt“, sagte ich. Ohne sich weiter um mich zu kümmern,
stürzten alle die Treppe rauf. Ich ging auf den Boulevard. Die nackte Frau
preßte immer noch ihre Steinhand gegen ihre fiebrige Stirn. Die Kälte drang
einem bis auf die Knochen. Die Lieferwagen der Gemüsehändler fuhren in Richtung
Hallen. Ein einsamer Radfahrer fuhr an mir vorbei. Nachtarbeiter. Dann
donnerten wieder Lieferwagen den völlig freien Boul’ Mich’ entlang. Der
Lastwagen mit den schweren Rädern. Baudelaire. Der Wein des Mörders.
Eine Märtyrin. Langsam, ganz langsam fingen Schneeflocken vor meinen Augen
an zu tanzen. Eine landete im Kopf meiner Pfeife und zerschmolz zischend.
Paris, 1957
Nachgang
Einen wahren Satz mußt du
schreiben. So ähnlich hat er gesagt. Einen möglichst wahren Satz mußt du schreiben,
wenn du schreiben willst. Aber was ist schon wahr? Die verlogene
Clochard-Romantik der versoffenen Penner vielleicht, die sich da auf der Place
de la Contrescarpe wie es gediegene Reiseführer beflissen und durchaus
glaubhaft beschreiben, seit vielen Jahren zusammenrotten, neugierig beäugt und
abgelichtet, im Vorübergehen oder als Staffage. Ein Gruppenbild mit
zweifelhaften Herren. Den Hintergrund mag der „Pomme de pin“ abgeben, der
Tannenzapfen, in dem schon Rabelais den Becher gehoben haben soll. Oder der
Nèqre Joyeux, dieses hinter Glas verblaßte Wahrzeichen eines früheren
Spezereiladens, der heute einem seelenlosen Supermarkt gewichen ist.
Die ersten Maitage besinnen
sich auf den April und die angetrunkenen Stadtstreicher tapsen in alkoholisiertem
Stechschritt unter die
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