Banalverkehr - Roman
einsam zu sein.
K apitel 5 – Das Zeitlupen-Universum
Als ich in die Agentur komme, werde ich im Projektraum bereits erwartet.
»Itsy? Was machst du denn hier?«
Itsy hüpft von ihrem Stuhl, stürmt auf mich zu und umarmt mich heftig. »Da bist du ja, Püppi! Ich hab mir solche Sorgen gemacht!« Ich klopfe mit der Hand auf ihren Rücken, als wäre sie ein Baby, dem man zum Bäuerchen verhelfen muss. »Wieso? Was ist passiert?«
»Na, du warst einfach weg. Hier, vor zwei, drei Tagen im Club!«
Sie umarmt mich immer noch, also klopfe ich weiter. »Itsy, das war vor über zwei Wochen.«
Sie lässt mich los und tritt einen Schritt zurück. »Was? Ehrlich? Ach, Kinder, wie die Zeit vergeht … Püppi, ich war fix und fertig, als ich zurückgekommen bin, und du warst nicht mehr da.« Sie wischt sich imaginären Schweiß von der Stirn und setzt sich zum Ausruhen erst mal wieder hin.
»Na ja, Itsy, nachdem ich eine gute Stunde da gesessen hatte – allein!«
Itsy springt vom Stuhl und wirft sich nochmal auf mich. »Püppileinchen, ich weiß. Es tut mir so leid! War das echt eine ganze Stunde?«
»Ja«, röchle ich und schiebe sie von mir weg. Nicht, weil ich sauer auf sie wäre, ich bekomme einfach keine Luft mehr. »Vielleicht solltest du dir mal eine Uhr anschaffen!«
Itsy zieht den Ärmel ihrer Strickjacke hoch. »Donna Karan!«, sagt sie stolz.
»Prima, jetzt musst du ja nur noch lernen, wie man sie liest.«
Itsy winkt ab. »Zeit ist relativ.«
Und sie hat ja so recht. Die Viertelstunde, in der sie mir erklärt, was sie daran gehindert hat, früher zu mir zurückzukommen, fühlt sich an wie ein halbes Jahr. Es kommen viele Menschen darin vor. Menschen, die sie in Gespräche verwickelt haben, Menschen denen sie mal schnell einen Gefallen tun sollte. Menschen, die ihr ihre Drinks aufs Top gekippt haben. Nicht nur einmal, das wäre zu einfach. Umstände, die gegen sie arbeiteten, wo sie doch nur einen Gedanken hatte: Muss. Zu. Puppe. Details nehme ich nicht auf. Ich warte auf Worte wie Sex oder Koks, denn das sind immer noch die einzigen Erklärungen, die alles für mich plausibel machen würden, aber vergebens. Also frage ich mich, wie lange Itsy gebraucht hat, um sich diese Geschichte auszudenken. Womöglich waren es gute zwei Wochen, weswegen sie auch erst heute gekommen ist.
Ja, Lügen will gelernt sein. Eine Lüge ist nämlich wie eine Masche. Jede muss mit Sorgfalt mit der nächsten verkettet werden. Ist nur eine lockere dabei, bekommt der ganze Pulli einen Makel. Der mag noch so klein sein, aber er wird auffallen. Itsy weiß das vermutlich, aber sie ahnt nicht, dass ich es auch weiß. Ich bin nämlich ein Profi-Pinocchio. Der schlimmste Pulli, den ich jemals gestrickt habe, war, als ich behauptet habe, dass mein Bruder gestorben wäre. Und das nur, weil ich zu feige war, einen Job zu kündigen. Ich ließ meinen Bruder sterben, damit ich einen Grund hatte, nicht mehr zur Arbeit zu gehen. Davor musste er natürlich krank werden, plötzlich und unerwartet. Ich ließ mich also von Lene in der Arbeit anrufen. Sie wusste von nichts. Nur, dass sie mich um eine bestimmte Uhrzeit anrufen sollte. Ich sagte »O nein« und »O Gott« in den Hörer, legte auf und performte. Vier Jahre Theater-AG und das gottgegebene Talent, auf Knopfdruck heulen zu können – und die Sache war erledigt. Ein Kollege musste mich mit Vollgas zum Bahnhof fahren, damit die besorgte Schwester ihrem armen Bruder schnellstmöglich beistehen konnte. Einen Tag später schrieb ich eine SMS an meinen damaligen Chef, dass ich zu spät gekommen sei, und bat darum, zwei Wochen freizubekommen. Trauerphase. Ich bekam die zwei Wochen und nahm mir noch mehr, denn ich kam nie zurück. Ein paarmal versuchten sie mich noch anzurufen, aber irgendwann gaben sie auf.
Ja, aber die Moral …, mahnt der Zeigefinger. Nein, moralisch gesehen hatte ich kein Problem mit dieser Lüge, denn ich bin ein Einzelkind und der Meinung, dass man das Recht hat, Figuren, die man selbst erschafft und zum Leben erweckt, auch selbst wieder sterben zu lassen. Meine Skrupellosigkeit ist allein dadurch bedingt, dass ich ein Feigling bin. Im Gegensatz zu Itsy. Die ist eine Rampensau und kriegt den Hals scheinbar nicht voll. »Und ich verspreche dir, das nächste Mal wird ganz anders laufen.«
»Mach dir keinen Kopf, Itsy«, sage ich lächelnd.
»Bist du mir noch böse?«
»Ich war dir nie böse.«
Itsy freut sich überschwänglich, und ich muss ihr versprechen, dass wir uns
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