auszusprechen, fragten wir uns, ob wir nicht Geschwister im Geiste seien, die sich Leben für Leben wiedertreffen. Nur bei einem sehr günstigen Karma gelingt solchen Geschwistern eine echte Beziehung, denn die käme ja fast der Erleuchtung gleich. Häufiger behalten wir einander aus der Ferne im Auge, wie Schutzengel. Im Moment habe ich das Gefühl, ihr Schutzengel zu sein, doch in dem Traum erschien es mir eher umgekehrt. Da ich keine Ruhe mehr finde, ziehe ich mich an und gehe hinunter ins Foyer, Alle Mädchen bis auf fünf, die noch auf den Sofas sitzen, sind verschwunden. Aus ihren Gesprächen schließe ich, daß nur zwei von ihnen in dieser Nacht Kunden hatten; mit den anderen dreien meinte es das Schicksal nicht so gut, und sie beklagen sich darüber, daß es in Songai Kolok zu viele Frauen für zu wenige Männer gibt. Der Rezeptionist ist auf seinem Stuhl eingeschlafen; sein Gesicht ruht auf verschränkten Armen. Er schreckt auf und schüttelt mürrisch den Kopf, als ich ihn frage, ob ich den Internetzugang im Konferenzraum benutzen könne. Obwohl ich ihm Geld anbiete, sagt er nein, der Konferenzraum sei erst ab neun Uhr morgens zugänglich. Ich spiele mit dem Gedanken, ihm damit zu drohen, daß ich das ganze Etablissement auffliegen lasse, aber das würde mich als Spielverderber entlarven. Also rede ich ihm gut zu, bringe ihn zum Lachen und biete ihm noch einmal Geld an, und nun erklärt er sich bereit, mich über den Computer am Empfang ins Internet zu lassen.
Ich bin so versessen darauf, meine E-Mails durchzugehen, weil ich wissen möchte, ob Supermann geantwortet hat. Als ich keine Nachricht von Mike Smith finde, bin ich verletzt, auch wenn sein Schweigen trotz der elf Stunden Zeitdifferenz natürlich kein Wunder ist. Ich überfliege ein paar Minuten lang die üblichen Geschäftsmails (eine ausgelassene Rentnergang, die vor sechs Monaten einen Mordsspaß bei uns hatte, möchte an Weihnachten wiederkommen), erst dann bemerke ich die neue Absenderin:
[email protected].
Ihre Nachricht ist sehr kurz: Sonchai, hier ist das Tagebuch, von dem ich Dir erzählt habe. Chanya.
Der Anhang hingegen besteht aus mehr als fünfhundert KB – fast soviel wie ein Roman –, und natürlich ist er in Thai-Schrift verfaßt. Die Klarheit und Schlichtheit des Stils beeindrucken mich. Ich bin so vertieft in den Text, daß ich eine Weile brauche, bis ich die Nervosität des Rezeptionisten bemerke. Ich muß ihm noch einmal Geld geben, damit er mich das ganze Tagebuch ausdrucken läßt, das ich mit auf mein Zimmer nehme. Den Rest der Nacht lese ich. Als ich mich am Morgen im Foyer mit Mustafa treffe, habe ich Ringe unter den Augen.
Draußen auf der Straße, auf dem Weg zu Turners Wohnung, klingelt Mustafas Handy; genauer gesagt, es vibriert in seiner Tasche, und er holt es sofort heraus. Nach ein paar Worten im örtlichen Dialekt klappt er es zu und schiebt es wieder an seinen Platz. »Sie sind schon hier.«
»Wer?«
»Was glauben Sie wohl, wer?«
Als wir in die Straße einbiegen, in der sich Turners Apartment befindet, nickt er in Richtung des Gebäudes. Zwei farangs in leichten cremefarbenen Anzügen, weißen Hemden und Krawatten sind gerade dabei, das Haus zu betreten.
»Verstehen Sie jetzt, was ich meine?« fragt Mustafa. »Es ist eher Arroganz als Dummheit. Sie könnten gut und gern den Aufdruck ›CIA‹ auf der Jacke tragen, wollen aber einfach nicht glauben, daß wir schlau genug sind, sie zu erkennen.«
Die Anwesenheit der beiden Männer bedeutet, daß wir uns die Wohnung nicht ansehen können. Unsicher, was wir als nächstes tun sollen, schlendern wir ein wenig näher an das Gebäude heran und suchen uns ein Café mit Blick auf die Straße. Ich bestelle mir ein 7-Up, Mustafa entscheidet sich für Wasser. Wir sind beide gespannt, wie die beiden farangs es anstellen werden, sich an dem Concierge vorbeizumogeln.
Wenige Minuten später kommen sie mit einem – wie ich meine, besorgten – Stirnrunzeln wieder aus dem Haus heraus. Mustafa sieht mich mit fast schon unverschämtem Gesichtsausdruck an: Und, Cop, was willst du jetzt machen?
»Passen Sie auf«, sage ich, marschiere zur Tür des Cafés und rufe auf englisch: »Kann ich Ihnen helfen?«, als die beiden Männer daran vorbeigehen. Sie bleiben sofort stehen, erstaunt, aber auch angenehm überrascht, in diesem Provinznest jemanden zu treffen, der fließend Englisch spricht.
»Sie wirken ein bißchen verloren«, sage ich mit einem zu den Worten passenden