Bank, Zsuzsa
streckte ihre Arme nach mir
aus und hielt mich lange fest, als habe sie sich an diesem Morgen entschlossen,
ihre schnelle, flüchtige Art abzulegen und sich Zeit für unsere Umarmung zu
nehmen.
Sie fuhr einen neuen Wagen, in dem
ich mich nach vorne setzen konnte, weil der Koffer meines Vaters nicht mehr auf
dem Beifahrersitz lag. Im Sommer hatte sie ihn ins Haus getragen und geöffnet,
nach fast einem Vierteljahrhundert hatte sie den kleinen Schlüssel aus dem
Sekretär genommen und in die beiden Schlösser gesteckt, vielleicht, weil es
mich nicht mehr gab in ihrem täglichen Leben und ich mit Blicken und Fragen
nicht stören konnte, wenn sie auf das stoßen würde, was sie auf irgendeine Art
immer schon geahnt haben musste. Als wir am Fotoladen vorbeifuhren, sagte sie,
sie habe Briefe gefunden, in einem Fach neben der schmutzigen Wäsche, durch die
sich in den Jahren gelbe Ränder gefressen hätten. Als sei Rom nicht der
richtige Ort dafür gewesen, als habe sie mir vor Wochen nur einen Hinweis geben
können, bevor sie ins Taxi gesprungen war, um dann am Stadtrand in einen ihrer
Laster zu steigen, als könne sie nur in Kirchblüt darüber sprechen, umgeben von
Hecken und Einfahrten und den Platanen des großen Platzes, fing sie jetzt
damit an, und es klang, als habe sie lange warten müssen, um es loszuwerden,
weil sie keine Pausen machte und kaum Luft zu holen schien, wenn sie ihre
Hände vom Lenkrad nahm und mit den Armreifen klapperte, auch jetzt, da sich
das Tor für uns geöffnet und sie den Wagen im Hof abgestellt hatte. Als ich
fragte, warum sie nicht schon in Rom davon erzählt habe, sagte sie, dich haben
doch andere Dinge beschäftigt, und für einen Vorwurfklang es zu mild, aber sie
habe gewusst, lange würde es nicht dauern, und ich würde den Zug nehmen und
nach Hause kommen.
Erst habe sie die Briefe mit dem
unbekannten Absender, der fremden Schrift, ohne Briefmarken und Poststempel,
nicht öffnen wollen. Sie sei zum Friedhof gelaufen, habe sich ans Grab gesetzt
und mit den Umschlägen gewedelt, sie mit spitzen Fingern gehalten und dem
Grabstein gezeigt, bevor sie einen aufgerissen und die ersten Zeilen laut
gelesen habe, als habe sie meinem Vater vorführen wollen, dass er nichts
dagegen tun und einwenden konnte. Vor den frisch gesetzten Veilchen habe sie
gesessen und laut gelesen, Caro Hannes, was komisch geklungen und sie zum Lachen
gebracht hatte, obwohl ihr nicht zum Lachen gewesen sei, dann weiter still für
sich, durch die fremden Zeilen, die sie auf Anhieb verstanden hatte, obwohl sie
lieber nicht alles auf Anhieb verstanden hätte. Nicht ein Wort habe sie
nachschlagen müssen, als sie am Abend auf ihrem roten Sofa gesessen hatte, vor
den Büchern meines Vaters, die bis zur Decke reichten, wo die Sätze und
Wendungen nachgeklungen und mit dem Namen Elsa, der in vier großen Buchstaben
unter jedem Brief gestanden hatte, zu einem Reigen angesetzt hätten, der sich
in ihrem Kopf gedreht habe und ihr wie ein Mückenschwarm surrend durchs Haus
gefolgt sei. Er sei aus dem Fenster über den Hof geflogen und wieder zur Tür
herein, sobald meine Mutter sie geöffnet und schnell zugeworfen habe, durch die
Diele zur Küche, über die Treppen ins Bad, ins Schlafzimmer zu ihrem Bett, über
dem er seitdem kreise.
Die restlichen Briefe fand sie
neben der großen Straßenkarte über ihrem Schreibtisch, in den Kisten, die sie
seit Jahren von den Regalen herab angestarrt hatten und die meine Mutter nie
hatte durchsehen wollen, weil sie keiner beschriftet hatte und meine Mutter
mit einem sicheren Gefühl immer schon vieles von sich ferngehalten hatte, von
dem sie glaubte, es würde sie nur durcheinanderbringen. Aber in diesem Sommer
ließ sie zum ersten Mal eine Leiter dort aufstellen, und sobald sie am Abend
allein war und sich Stille über die Gänge gelegt hatte, streifte sie ihre
Schuhe ab und stieg hoch, nahm die Kisten vom Regal und packte sie auf dem
Rauchtisch vor dem geöffneten Fenster aus, weil sie wusste, ein Geruch von
Staub und Zeit würde sie anfallen, der von den Briefen kam, die Elsa meinem
Vater nie geschickt hatte, sondern ihm mitgegeben haben musste, wenn er in Rom
gewesen war, um so die Lücken zu schließen und den verlorenen Tagen Leben zu
geben, an denen sie sich nicht hatten sehen können, wie ein Tagebuch, in dem
sie alles für ihn festhielt, wenn er weit von ihr entfernt war. Bis zum Morgen
zählte meine Mutter an den Händen die Wochen und Monate zusammen und rechnete
so das zweite
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