Bank, Zsuzsa
Stimmen noch immer, als hingen sie noch zwischen
den Ästen und wisperten nun immerzu das eine: Ein Junge aus Kirchblüt ist
verschwunden. Sein Stuhl im Klassenzimmer blieb leer, und bald kam jemand, um
die Stifte und Hefte einzusammeln, den Turnbeutel aus grauem Stoff von der
Garderobe zu nehmen und seinem Vater nach Hause zu bringen. Die Bänder und
Stangen verschwanden von den Feldrainen, und die Polizeiwagen mit ihren blauen
Lichtern fuhren langsam über die Feldwege rund um Évis Haus, als versuchten sie
ein letztes Mal, etwas zu finden, das ihnen bislang nicht aufgefallen war. Die
ersten Plakate an Mauern und Türen tauchten auf, mit dem Gesicht des Jungen,
seinem Namen und dem letzten Tag, an dem man ihn gesehen hatte, an dem er mit
uns über den Schulhof gelaufen, mittags durch den Wald hinunter zum See gefahren
und später nicht mehr zurückgekehrt war. Eine Stille, zäh und dicht, legte sich
auf den großen Platz, auf die Geschäfte und ihre Auslagen, auf den Kirchturm
und seinen Glockenschlag, auf die Vorgärten, die Zäune und Häuser, auch auf das
Haus, in dem sein Vater lebte, ein Sandsteinhaus in einem Rosengarten, dessen
Blüten und Knospen bis zum Dach kletterten und zum Himmel strebten, das Haus,
an dem die Läden jetzt geschlossen blieben und das wir deshalb bald so
nannten: Haus mit geschlossenen Läden.
Es war der Sommer, in dem Karl zu
uns stieß. Er kam in unser Leben, als wir noch sangen: Ringel, Ringel, Reihe,
sind der Kinder dreie, uns an den Händen fassten und im Kreis durch Évis Garten
tanzten. Es war schnell so, als habe es Karl schon immer gegeben, wenn er jetzt
am Maschendraht mit den Hühnern sprach und Évi Nägel reichte, wenn sie für ihre
neuen Hasen Kästen baute und ein Gitter davorsetzte, in das wir Salatblätter
stecken durften. Aja und ich vergaßen fast, dass es eine Zeit gegeben hatte, in
der wir nur zu zweit gewesen waren und einander gereicht hatten, Aja vergaß es
vielleicht schneller als ich. Obwohl uns nichts gefehlt hatte, schien Karl
etwas zu ergänzen, auch wenn jeder hätte glauben können, er passe nicht zu uns.
Seine hellen Hemdkragen passten nicht zu Ajas wirrem Haar, seine Stimme, wenn
er guten Tag sagte und Évi die Hand reichte, nicht zu unserem Radschlagen, sein
Warten auf Évis Ermunterung, sich setzen zu dürfen, wenn er neben ihren Stühlen
unterm Birnbaum stand, und seine Art, dann still zu bleiben, die Hände im Schoß,
während Aja und ich aufsprangen, durchs Gras wanderten und mit den Zehen
Butterblumen pflückten. Aber für Aja und mich passte es, hatte es sofort
gepasst. Karl setzte sich an die Spitze unseres Dreiecks, um es zu Ende zu
zeichnen und zu schließen. In diesem Sommer teilten wir die drei Linden vor dem
Zaun unter uns auf, aus deren Blüten Évi an den Abenden Tee kochte. Wir setzten
uns auf ihre Äste und schauten nun zu dritt auf Évis Garten, auf ihr kleines
Küchenfenster, hinter dem die Ameisenstraßen lagen, die Aja mit Krümeln umleitete
und die sich erst auflösten, wenn Évi Backpulver verstreut hatte.
Wir hatten Karl schon gekannt,
bevor wir ihn getroffen hatten, bevor er an den Nachmittagen mit uns in den
trüben See sprang und nach Steinen tauchte, die er uns schenkte, wenn er am
Abend als Erster abgeholt wurde. Wir kannten sein Gesicht aus den Katalogen für
Kinderkleider und von dem Plakat in der Auslage des Schuhgeschäfts, in dem Évi
höchstens zweimal im Jahr Schuhe kaufte, ein Paar für den Sommer und eines für
den Winter, immer eine Nummer größer, als Aja gebraucht hätte, nachdem sie
ihren rechten, ihren linken Fuß auf einem Brettchen hatte messen lassen, mit
einem Schieber, an den ihre Zehen stießen, und man jedes Mal darüber gestaunt
hatte, wie klein ihre Füße waren. Karl hatte uns schon zwei Sommer und zwei
Winter lang hinter Glas angeschaut, zwischen Sandalen, Halbschuhen und
Stiefeln, weil seine Mutter ihn schon seit langem an einen Ort brachte, wo er
sich umzog, wo sein Haar gekämmt und Lack auf seine Strähnen gesprüht wurde, wo
man ihn vor große Strahler unter schwarze Schirme stellte, damit er später in
einem Katalog oder Schaufenster zu sehen sein würde. Wenn er nicht aus dem
Wagen steigen wollte, wenn er sich wand und sträubte, wenn er seiner Mutter
weggelaufen war und sie ihn hatte einfangen müssen, lockte sie ihn mit
Brausetabletten in bunter Folie oder einem Heft, das er sich aussuchen durfte,
in einem der Zeitungsläden auf dem Weg, und aus dem er Aufkleber und
Sammelbildchen an Aja
Weitere Kostenlose Bücher