Bank, Zsuzsa
hatte. Seine Stimme änderte sich nicht, auch wenn sich Karls
Stimme von Jahr zu Jahr änderte, auch sein Lachen blieb dasselbe, über das sie
uns einmal sagte, sie höre es, sobald sie im Sandsteinhaus, dem Haus mit den
geschlossenen Läden, die wenigen Stufen hoch nehme, die Tür zu seinem Zimmer
öffne und auf dem Bett nach seinem Schlafanzug taste, den seitdem niemand
weggenommen hatte. Wenn sie die wenigen Schritte zum Fenster gehe, an das die
Brüder aus der flachen Hand ihre Murmeln geschnipst hätten, immer wenn es geregnet
habe, vertreibe sie den Gedanken, Ben könne ohne sie wachsen und älter werden,
und sein Gesicht könne Züge annehmen, die ihr nicht vertraut wären. Nur in
Karls Vorstellung wuchs sein Bruder, Karl ließ ihn wachsen, wie er sagte, ließ
ihn größer werden, größer noch als sich selbst. Er stellte sich vor, wie seine
Füße wuchsen, seine Hände, wie sein Haar länger würde, dunkler auch, und wie er
nicht mehr in die Hosen und Jacken passte, die er an ihrem letzten gemeinsamen
Sonntag getragen hatte, als sein Vater Ben schon am frühen Morgen gebracht
hatte und dann weitergefahren war.
Aja und ich sprachen von Ben lange
nur als Karls Bruder, als habe er keinen Namen. Ich erinnerte mich immer
schlechter an sein Gesicht, das aussah, als sei er mit Kreidehänden über seine
Haut gefahren, als habe man es mit hellem Puder bestäubt und müsse es jetzt
mit einem feuchten Taschentuch abwischen. Keiner wollte sagen, was jeder in
Kirchblüt zu denken schien, auch nach Monaten, auch im nächsten Frühling und
auch später nicht, als die Fotos von den Laternen verschwunden waren und nur
wenige Plakate hängen blieben, weil die meisten Ladenbesitzer sie nicht mehr
in ihren Eingängen sehen wollten. Alle nannten es verschwunden oder verloren
oder vermisst, keiner wagte, etwas anderes zu sagen, jedenfalls nicht zu Karl
und seinen Eltern, die es sich verbeten hatten, so zu reden, und sobald jemand
dazu ansetzte, sobald sie jemand ansprach, an einer der Kreuzungen, auf einem
ihrer Wege über den großen Platz, wenn Karl sich unter den Platanen von seiner
Mutter verabschiedete, um mit seinem Vater zu gehen, hoben sie die Hände und
drehten sich weg, als wollten sie die Worte abwehren. Für mich klang es
komisch, wenn ich hörte, sie hätten ihr Kind verloren, als sei ihnen Karls Bruder
entwischt und sie seien weitergegangen, ohne es zu bemerken, als könne man ein
Kind wie einen Schlüssel oder ein Paar Handschuhe einfach verlieren.
Évi schwieg und tat Karl den
Gefallen, vorzugeben, er sei ein Junge wie jeder andere, mit einem Leben wie
jeder andere, genauso wie sie jedes Mal vorgab, ihr Leben gehe weiter wie
zuvor, nachdem Zigi im Herbst abgereist war. Sie tat auch so, als rund um den
großen Platz erzählt wurde, Karls Vater habe hinter verschlossenen Garagentüren
im Wagen gesessen und den Motor laufen lassen, bis die Nachbarn die Polizei
gerufen hätten, weil sie das Tor nicht selbst hätten öffnen können. Obwohl es
hieß, es sei eine Frage von Sekunden gewesen und nur dem Glück zu verdanken,
dass Karls Vater nichts geschehen sei, erlaubte seine Mutter, dass Karl weiter
über Nacht bei ihm blieb. Karl wartete darauf, sein Bruder würde eines Tages an
einem Ort, den er noch nicht kannte, auftauchen, jemand würde ihn an einem
Vormittag finden und am Nachmittag zu ihm zurückbringen. Er glaubte, nur dann
würde das Geräusch in seinem Kopf verstummen, dieser Klang von Glas auf Glas,
wenn er und Ben Murmeln ans Fenster hatten schnellen lassen, immer wenn es so
stark geregnet hatte, dass sie im Haus geblieben waren. Karl hörte es, seit
sein Bruder verschwunden war, und wenn es anfing zu regnen, hörte er es lauter
noch, ein schnelles Klack-Klack, das wiederkehrte und noch eine Weile bei ihm
blieb, auch wenn der Regen nachgelassen hatte oder schon vorbeigezogen war.
Selbst Jahre später, als wir größer, als wir schon erwachsen waren, redete
Karl immer noch so, als könne er seinen Bruder jeden Augenblick in einer
Menschentraube entdecken, als könne er in einem Zug sitzen, auf einem Waldweg
auftauchen, als könne er in einem Wagen vorbeifahren oder an einem Strand
baden, an dem Karl sich gerade in die Wellen warf. Wenn er jemanden sah, der eine
bestimmte Art hatte zu gehen, seinen Kopf zu bewegen und sich zu uns zu drehen,
zeigte Karl auf ihn und sagte, das könnte er sein, und irgendwann hörten Aja
und ich auf zu glauben, Karl würde die Suche aufgeben.
Wäre sein Bruder
Weitere Kostenlose Bücher