Bank, Zsuzsa
Straßen mit den
großen Häusern lebten und doch aufs Gymnasium gingen, und wie sie Karl und mich
in vielem überholte, hatte sie uns auch dabei überholt, war mit ihrem
feuerroten Ranzen, der auf ihrem Rücken tanzte, an uns vorbei in eine Welt
gesprungen, die ihr schnell gehörte, während sie Karl und mir in Teilen immer
fremd blieb. Aja war durchs große Tor über die grauen Steinstufen und die
Backsteingänge unserer Schule gelaufen und hatte alles sofort in Besitz
genommen, als hätte es sich nach ihr ausgerichtet, als hätten sich die Dinge
um sie angeordnet, sobald sie aufgetaucht war, als habe sie jeden Winkel, jede
Tür und hinter den Treppen jeden Gang sogleich gekannt und sich darum so sicher
und leicht bewegt, sicherer und leichter als alle anderen zwischen Formeln und
Fragen, zwischen Zahlen und Wörtern, die sie auseinandernahm und zusammensetzte,
wie es ihr einfiel, und mit denen sie zu jonglieren wusste, so wie Zigi mit
den Reifen aus Holz, die er hintereinander hochjagte und mit den Füßen
auffing.
Seit unsere Mütter an einem
Winterabend in Évis Küche angefangen hatten, du zueinander zu sagen, hatten
auch wir Kinder Namen. Karls Mutter Ellen hatte Aja und mich früher nie mit
Namen angesprochen, aber jetzt sagte sie Therese und Aja, und wir wunderten
uns, dass sie unsere Namen kannte, wo sie uns immer nur die Mädchen genannt
und Karl gefragt hatte: Siehst du die Mädchen heute?, Gehst du morgen zu den
Mädchen?, oder: Was machen eigentlich die Mädchen?, wenn sie fand, er habe
schon zu lange in seinem Zimmer gesessen und, weil es regnete, bunte Murmeln
gegen sein Fenster geworfen. Seit Aja in unserem ersten Sommer meinen Namen
rückwärts gesagt und sofort ein kurzes Seri daraus gemacht hatte, blieb dieser
Name an mir haften, und mir ist nie der Gedanke gekommen, ihn zu ändern, Karl
und Aja nennen mich heute noch so. Ausgesucht hatte meinen Namen mein Vater,
zwei Tage bevor ich auf die Welt kam, war er ihm als der richtige, der einzige
Name für mich eingefallen, und als er am Abend in der Tür gestanden und ihn zum
ersten Mal gesagt hatte, habe es geklungen, als habe er den ganzen Tag darauf
gewartet, ihn zu verkünden, erzählte meine Mutter oft, auch dass sie sofort
gefunden habe, er habe keinen besseren, keinen hübscher klingenden Namen
auswählen können. Noch bevor ich ihn hätte selbst sagen können, war mein Vater
aus meinem Leben verschwunden. Als ich gerade anfing, Antworten zu geben und
Fragen zu stellen, gab es meinen Vater nicht mehr, und er hat mir etwas
hinterlassen, das ich seitdem in mir getragen habe und von dem ich gehofft
habe, irgendwann berühre es mich nicht mehr, eines Tages könne ich es
abstreifen und vergessen.
Es gibt Bilder von uns. Mein Vater
hält mich hoch und lacht in die Kamera, er liegt mit mir im Gras und spielt mit
einer Handpuppe, einem Wolf mit großen schwarzen Augen, er steht mit mir vor
einem Sack voller Geschenke und zieht eines an seiner Schleife heraus. Ich kann
keine Erinnerung an diese Momente haben, aber ich bilde mir ein, ich hätte sie,
ich wüsste, wie es gewesen war, auf dem Arm meines Vaters zu sitzen, vor einem
Sack voller Geschenke, oder im Gras mit ihm zu liegen. Ich bilde mir ein, ich
hätte seinen Geruch nicht vergessen, ich wüsste noch, wie es sich anfühlte,
meine Hände auf seine Wangen zu legen, wenn Sonntag war und er sich am Morgen
nicht rasiert hatte. Ich denke an ihn, an jedem Tag denke ich an ihn, wenigstens
einmal drängt sich ein Bild dieser winzigen Auswahl in meinen Kopf, schiebt
sich vor meine Augen, und wenn ich tags nicht dazu gekommen bin, zeigt es sich,
wenn ich am Abend die Augen schließe und in den Schlaf sinke, als könne mein
Tag sonst nicht enden. Meine Mutter hatte nie aufgehört, über meinen Vater zu
reden, als habe er uns nie verlassen, als könne er abends mit seinen Mappen und
Taschen noch in der Tür stehen und sein dunkles Haar aus der Stirn streichen,
wenn er sich zu ihr beugt, als könne er noch neben ihr aufwachen, mit der
flachen Hand auf den Wecker schlagen, damit es wieder still wäre, seinen Kopf
auf ihr Kissen legen, als hätten sie noch einen Augenblick, als müsse er nicht
aufspringen, den Morgenmantel überziehen und im Bad verschwinden. Nie hatte sie
im Sinn, ihn zu ersetzen, wir sollten ihn nicht vergessen, und deshalb vergaßen
wir ihn auch nicht und lebten weiter mit ihm. Wir sträubten uns gegen das
Vergessen, wir hielten dagegen und wehrten uns mit jeder Faser. Ich brauchte
meine
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