Bankgeheimnisse
hinterließ ein Vakuum aus Angst und Fluchtgedanken.
Helmberg dachte an seinen heutigen Tag in der Bank. Es war Samstag, doch er hatte gearbeitet, so wie fast an jedem Samstag in den letzten zwanzig Jahren. Die meisten Privatbanker kamen ein-, zweimal am Wochenende ins Büro, und er hielt es genauso. Er wußte, es wurde von den leitenden Mitarbeitern erwartet, und er hatte stets die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllt. Doch heute war es anders gewesen als sonst. Während er in den vergangenen Wochen bei seiner Arbeit eine willkommene Betäubung gesucht und gefunden hatte, war ihm heute die Bank als gigantisches, gefräßiges Ungeheuer erschienen, als ein Moloch, dessen Kiefer über seinem Brustkorb zuschnappten und mit unerbittlicher Grausamkeit das Leben aus ihm herauspreßten. Helmberg hatte am Schreibtisch gesessen und versucht, den Schmerz in seiner Brust zu ignorieren. Er hatte die Wand angestarrt und darauf gewartet, daß es Abend wurde.
Helmberg fixierte erneut die Uhr auf dem Kaminsims. Er saß jetzt seit sechs Stunden vor dem Telefon und wartete auf ihren Anruf. Es war zehn nach eins. Sie wußte, daß er vor Angst um seine Familie verging. Er glaubte keine Sekunde, daß sie einfach die Akte nehmen und zur Polizei gehen würde, ohne vorher ihrer Sekretärin die Codekarte zurückzugeben oder ihn zumindest anzurufen, wenn es nicht klappte. Sie hatte es ihm versprochen. Er wußte, daß Verlaß auf sie war, anderenfalls hätte Klingenberg sich ihrer nicht auf diese Art angenommen.
Helmberg dachte an Klingenberg, ein Mensch, dem er uneingeschränkte Bewunderung gezollt hatte. Harald Klingenberg hatte den Geschäftssinn und die Spürnase des Bankiers mit dem liebenswürdigen Charme und dem Schöngeist des Kunst- und Literaturkenners verbunden, eine Kombination, die ihn einzigartig gemacht hatte, ebenso wie seine über jeden Zweifel erhabene Integrität im Geldgeschäft. Vielleicht lag es daran, daß er die Bank geerbt hatte. Er hatte sich nicht aus dem Fußvolk nach oben boxen müssen wie viele Vorstandsvorsitzende anderer Banken, die es nur mit Hilfe der üblichen Steigleitern und Seilschaften geschafft hatten und irgendwo auf halbem Wege solchen Ballast wie Güte, Menschlichkeit und Mitgefühl abgeworfen hatten.
Auch Johanna Herbst hatte sich nach oben geboxt. Sie war in ihrem Job erstklassig, und sie wußte es. Mit der Arroganz des jugendlichen Emporkömmlings sah sie auf Helmberg herab. Er war für sie nur ein ängstlicher alter Mann mit Eulenaugen hinter dicken Brillengläsern. Helmberg seinerseits kannte ihre Fehler, er wußte, daß sie ehrgeizig war und auch in gewissem Ausmaß nicht immun gegen Versuchungen, ebensowenig wie er selbst. Sie hatte das Geld in der Schweiz genommen, so wie er auch. Sie war hungrig. Aber sie war eine Frau, die niemals jene Grenze zwischen Skrupellosigkeit und Verbrechen überschreiten würde wie Wiking und ihr getöteter Mann. Obwohl Helmberg manchmal glaubte, ihre teils nachsichtige, teils verächtliche Herablassung förmlich mit Händen greifen zu können, mochte er Johanna Herbst.
Er sah ein letztes Mal auf die Uhr. Zwanzig nach eins. Helmberg zwang sich, die Lage realistisch einzuschätzen. Sie hatte angekündigt, ihn noch an diesem Abend anzurufen, wenn alles planmäßig verlief. Daß sie nicht anrief, konnte folglich nur eins bedeuten: Irgend etwas war schiefgegangen. Sie würde jedenfalls nicht dafür sorgen können, daß die gestohlene Codekarte wie geplant unbemerkt zurückgegeben wurde. Ihre Sekretärin würde spätestens Montag früh den Verlust bemerken und ihn melden. Die in solchen Fällen vorgeschriebene Sicherheitskontrolle würde ergeben, daß die Karte in der Nacht von Freitag auf Samstag benutzt worden war, zu einer Zeit, als er sich praktisch allein in der Bank aufgehalten hatte.
Der Schmerz in seiner Brust war jetzt stärker spürbar. Er tastete nach den Nitrokapseln in seiner Brusttasche. Dann wanderten seine Finger zur anderen Brusttasche, erfühlten den beruhigenden Umriß des Umschlags mit den Flugtickets.
Rechts neben dem Telefon standen gerahmte Fotografien seiner Familie. Seine Frau mit den Kindern, als sie noch klein gewesen waren. Ein Bild von der Hochzeit seiner Tochter. Und eine Porträtaufnahme seiner Enkelin. Sie war ein hübsches Kind mit langen hellblonden Locken und strahlend blauen Augen. Er wußte plötzlich, daß Johanna Herbst als kleines Mädchen so ähnlich ausgesehen haben mußte. Er hob die Hand und strich langsam mit den
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