Bankgeheimnisse
Bewegungen nahm sie schließlich ihren Mantel von der Garderobe und zog ihn über. Sie taumelte vor Schwäche und hielt sich abermals an der Wand fest. »Ich rufe Helmberg an, er soll sich mit seiner Familie absetzen. Dann nehme ich die Akte und gehe zur Polizei.«
»Nein. Wir machen es ab sofort so, wie ich es will.«
»Was hast du vor? Wohin willst du mich bringen?«
»Überlaß das mir.«
»Fabio, wohin?«
»Weg von hier. Raus aus der Stadt.« Er half ihr bei den Verschlüssen. Anschließend zog er seine Jacke an. »Wo ist deine Pistole?« Sie deutete auf die Handtasche zu ihren Füßen. »Hier drin.«
»Nimm sie heraus und entsichere sie.«
»Warum?«
»Tu, was ich dir sage.«
Sie sah in sein von Qualen zerrissenes Gesicht und gehorchte. Die Pistole war zu schwer und zu groß für sie. Es war eine Heckler & Koch VP 70, die sie in geladenem Zustand und mit aufgeschraubtem Schalldämpfer nur mit beiden Händen zugleich halten konnte. Das Gewicht zog ihr die Arme herab. Sie wünschte sich ins Bett zurück, um dort bis an ihr Lebensende zu schlafen. »Was soll ich jetzt tun?«
»Du bleibst einfach hier im Flur stehen, mit der entsicherten Pistole. Du rührst dich nicht von der Stelle. Ich trage die Taschen zum Wagen. Wenn ich in fünf Minuten nicht wieder hier bin, verläßt du das Haus. Nimm den Aufzug. Warte an der Treppe, bis er kommt, und vergewissere dich mit der Pistole im Anschlag, ob er leer ist.«
Sie blickte ihn stumm an.
»Hast du verstanden?«
Johanna nickte. Ihr Gesicht war kalkweiß. »Ich hab’s verstanden. Ich warte, bis du wiederkommst.«
»Nein. Du wartest fünf Minuten, dann verschwindest du von hier. Egal wie. Und wenn du kriechst.« Er ging nacheinander in alle Räume des Apartments und schaute aus den Fenstern. Dann horchte er an der verschlossenen Wohnungstür. »Okay. Vergiß nicht, fünf Minuten.« Er nahm eine der Reisetaschen und schulterte sie. Die andere Tasche klemmte er unter den Arm. Er schloß die Tür auf, ging hinaus und drückte sie sofort wieder hinter sich zu.
Johanna blieb an die Wand gelehnt stehen, die Pistole mit beiden Händen umklammernd. Sie wußte genau, daß sie keinen Schritt gehen konnte. Vermutlich würde sie nicht einmal kriechen können. Sie hatte es kaum geschafft, sich anzuziehen. Trotz des Penicillins, von dem sie an diesem Tag noch zweimal eine Dosis genommen hatte, war sie weit davon entfernt, gesund zu sein. Ihre Arme begannen zu zittern, sie ließ die Waffe sinken. Schließlich zitterten auch ihre Beine. Die Knie gaben unter ihr nach. Sie rutschte an der Wand abwärts, die Pistole immer noch mit beiden Händen festhaltend. Nach einer Weile wollte sie auf die Uhr sehen, aber ihr fehlte die Kraft. Ob die fünf Minuten schon um waren? Vielleicht hatten sie Fabio erwischt und kamen nun, um sie zu holen. Flüchtig ging ihr durch den Kopf, daß sie heute noch dringend jemanden anrufen mußte. Dann verschwand dieser Gedanke wieder und wurde durch einen anderen ersetzt. Ihr wurde bewußt, in welcher Haltung sie dort hockte. Sie dachte an ihren Bruder, der irgendwann in einem vergangenen Leben in einem anderen Flur gekauert und versucht hatte, die dünne sprudelnde Quelle an seinem Hals zum Versiegen zu bringen, während ihm die zersplitterten Reste seiner Kindheit aus der Hand fielen. Klingenberg. Micky. Leo. Gina. Es würde niemals enden. Eine Spirale drehte sich und wurde stetig schneller. Gier und Geltungssucht hatten sie in Gang gesetzt, und jetzt rotierte sie in immer weiteren Kreisen, machtvoll wirbelte sie alles hinweg, was sie aufzuhalten versuchte. Die Bewegung verstärkte ihren Antrieb, und ihr Treibstoff waren nun Gewalt und Tod.
Gott schütze Sie, hatte Helmberg gesagt. Wo war Gott gewesen, als Klingenberg, Micky und Leo gestorben waren? Nicht Gott war der Freund des Menschen, wenn der Kampf verloren war, sondern der Tod.
Wie auf ihrer Flucht durch das Kaufhaus spürte Johanna wieder jenen mächtigen Sog, das Verlangen, sich in friedvolle Schwärze fallen zu lassen. Dort war sie sicher. Keiner würde ihr folgen. Sie hob die Pistole dicht vor das Gesicht und blickte in die lockende dunkle Tiefe des Laufes.
Schritte erklangen vom Treppenhaus her, kamen näher, bis zur Wohnungstür, wo sie aufhörten. Johanna ließ die Pistole langsam sinken und starrte die Tür an. Ein Kratzen an der Wohnungstür, ein Knirschen am Schloß. Sie hob die entsicherte Waffe und legte den langen Lauf des Schalldämpfers auf ihr angezogenes Knie. Auf diese
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