Bankgeheimnisse
konnte, sie zu holen.
Der erste ihrer Wünsche wurde erhört. Gina richtete sich auf den Knien auf, als das Motorengebrumm näher kam. Sie riß beide Arme hoch, doch die Scheinwerfer strichen über ihren Kopf hinweg, und der Wagen fuhr vorbei. Ihr heiserer Aufschrei ging über in bellenden Husten. Es war fast zwanzig Grad minus, und sie trug unter dem offenen, schneedurchweichten Mantel nur ein Kleid, das ebenfalls vom Saum bis zur Taille durchnäßt war. Hatte sie vorhin noch gedacht, es schaffen zu können, so zweifelte sie jetzt ernstlich, mit dem Leben davonzukommen. Die Kälte stach in ihre Wangen und versengte beim Einatmen ihre Bronchien. Ihre Hände waren völlig taub, ebenso ihre Beine, bis auf die beiden pochenden Klumpen, die ihre Füße waren. Gina begriff, daß sie binnen kürzester Zeit erfrieren würde, wenn sie nicht gefunden wurde. Ihr Bruder und Johanna würden sterben, weil sie sie nicht mehr warnen konnte. Wieder kam ein Wagen näher, Scheinwerfer stanzten weißflirrende Säulen in die Dunkelheit zwischen den Baumstämmen. Gina kroch auf die Fahrbahn. Der Wagen bremste mit kreischenden Reifen, Zentimeter vor ihren ausgestreckten Händen. Sie sackte ächzend zusammen, zuckte wieder hoch, als der Motor aufheulte. Der Wagen setzte zurück, fuhr an ihr vorbei, beschleunigte und verschwand in einer aufstiebenden Wolke aus Schnee. Ein betrunkener Fahrer, dachte sie benommen. Er hatte nicht gehalten, weil er Angst um seinen Führerschein hatte. Mit dieser Schlußfolgerung zerbrach ihr Verstand in Fragmente, die in einem See der Finsternis versanken. Die Kälte war bis in ihr Inneres vorgedrungen und ließ sie zu einer willenlosen, steifen Masse werden. Sie würde hier sterben, auf einer einsamen vereisten Straße zwischen dunklen Bäumen. Ihr Kopf fiel nach vorn, schlug auf den Asphalt. Ihr letzter Gedanke, bevor sie mitten auf der Fahrbahn liegenblieb, galt ihrem Bruder.
Johanna fuhr hoch, aufgeweckt vom Geräusch einer Hupe. Sie richtete sich auf und blinzelte verschlafen durch die Windschutzscheibe. Durch das Schneetreiben sah sie rote Bremslichter. Fabio fluchte neben ihr und schlug erneut mit der Faust auf die Hupe. »Verdammter Idiot!«
Johanna blickte auf die Digitaluhr am Armaturenbrett. Es war sieben Uhr morgens. Draußen war es stockdunkel. »Wo sind wir?«
»In Südtirol.«
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Wozu? Wir fahren durch, und es ist besser, du schläfst, solange du kannst. Du bist krank.« Er wies auf das Handschuhfach. »Da drin ist deine Medizin. Du mußt sie noch nehmen.«
Schweigend holte sie die Flasche mit dem Penicillin aus dem Handschuhfach und schluckte das vorgeschriebene Quantum. »Wohin fahren wir durch?«
»Nach Neapel.«
»Neapel?« Verblüfft blickte sie auf. »Was zum Teufel wollen wir in Neapel?«
»Wir besuchen meinen Schwager Ernesto.«
»Findest du es richtig, noch mehr Leute da hineinzuziehen?«
»Ernesto ist der Mann meiner Schwester. Er steckt schon drin.«
»Du bringst ihn in Gefahr, wenn du mich bei ihm versteckst!«
»Überlaß das einfach Ernesto, va bene? «
Sie registrierte den gereizten Tonfall und den italienischen Akzent, der stärker war als sonst. Besorgt betrachtete sie ihn. Er starrte konzentriert durch die Scheibe und fuhr wieder an, als der Wagen, der vor ihnen gebremst hatte, ebenfalls weiterfuhr. Sein Mund war zu einer Linie der Erbitterung zusammengepreßt. Grenzenlose Erschöpfung, gepaart mit Trauer und Sorge, umschattete seine Züge.
»Fabio, du siehst schlecht aus. Wir sollten irgendwo halten und Pause machen. Du mußt schlafen.«
»Ich habe unterwegs angehalten und ein paar Stunden geschlafen.«
Sie versuchte es erneut. »Warum läßt du mich nicht zur Polizei gehen und dem ganzen Spuk ein Ende bereiten?«
Er lachte, kurz und rauh. »Du bist verrückt, wenn du glaubst, sie damit zu kriegen. Du hast mir schon einmal dieses Märchen aufgetischt. Schnapp dir ihr Geld, damit schnappst du sie. Schwachsinn. Du hast ja keine Ahnung. Glaubst du vielleicht, sie sitzen seelenruhig da und warten, bis die Polizei sie abholen kommt? Glaubst du das wirklich?«
»Nein«, sagte sie ruhig.
»Nein?« Über seiner Nasenwurzel erschien eine wütende Falte. »Warum dann der ganze Blödsinn mit der Akte? Willst du Deutschland eine Sahnetorte im Wert von zwei oder was weiß ich wie vielen Milliarden zu Füßen legen? Hast du einen übertriebenen Gerechtigkeitsfimmel, oder was?
»Was ist schon gerecht? Das ganze Leben ist eine einzige
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