Bankgeheimnisse
geweiteten Augen. Ihre Stimme klang zittrig. Er beugte sich zu ihr herunter. »Nichts passiert. Warum gehst du nicht zu Fuß?«
Sie gab keine Antwort. Er sah, daß es ihr nicht gut genug ging, um zu Fuß zu gehen, und er fragte sich, wie sie in diesem Zustand arbeiten wollte.
»Kommst du heute abend zum Essen?« fragte er gewohnheitsmäßig. » Risotto con finocchi, spezzatini d’angello alla postina, pere al vino. Erinnerst du dich, wir hatten es letzten Monat schon mal. Es hat dir geschmeckt.«
Um ihre Nase bildete sich ein grünlicher Hof. »Wenn du nicht willst, daß ich dir meinen eben erst getrunkenen Tee auf dein sauberes weißes T-Shirt spucke, gehst du besser von der Scheibe weg.« Er trat gehorsam zur Seite, sie stieß weiter zurück und fuhr vom Parkplatz auf die Straße. Stirnrunzelnd blickte er ihrem Wagen nach. Er hatte sie nicht absichtlich mit der Aufzählung seines Menüplanes an ihren Magen erinnern wollen. Es mußte ihr schlechter gehen, als sie selbst wahrhaben wollte. Er fragte sich zum wiederholten Male, warum sie sich überhaupt gestern betrunken hatte. In den zwei Jahren, seit er sie kannte, hatte er sie noch nie so erlebt. Vermutlich hing es mit den beiden Männern zusammen, die in ihrem Leben herumpfuschten. Ihr mißratener Bruder und ihr ebenso mißratener Ehemann. Fabio wußte, daß Leo neuerdings Anstrengungen unternahm, sie wieder auf seine Seite zu ziehen. Trotzdem hatte er das Gefühl, daß demnächst das Maß voll sein würde. Sie hatte noch nie zuvor so unglücklich gewirkt.
Was ihren Bruder anging, würde sie jedoch zeitlebens auf beiden Augen blind bleiben, egal was er tat. Er war wie ein Kind für sie. Sie glaubte an einen guten Kern in ihm. Er war für sie ein Opfer der Umstände, möglicherweise unverbesserlich und unbelehrbar, aber immer unschuldig.
Fabio kaufte auf dem Markt Fenchel, Birnen, Käse und frische Eier. Er schob die Kisten auf die Ladefläche seines Kastenwagens. Anschließend beschloß er, Michael Sonntag einen kleinen Besuch abzustatten.
Fabio parkte den Wagen in der Nähe des Hauptbahnhofs und ließ sich von den Rolltreppen hinab in den stickigen, vibrierenden Bauch der Stadt tragen. Er drängte sich an den Menschen vorbei, die mit ihrem Gepäck und ihren Aktenkoffern durch die unterirdischen Gänge hasteten. Reisende, Banker und Versicherungsleute.
Eine Bettlerin hockte auf einer schmierigen Decke dicht an der gefliesten Wand, einige Meter von der Rolltreppe entfernt, die noch tiefer hinab führte, zu den U-Bahnsteigen. Die Frau war in schreiend bunte Lumpen gekleidet. Eine Zigeunerin, die ein schlafendes, mageres Kleinkind im Arm hielt. Sie wartete mit stoischer Miene auf Almosen. Fabio wußte, daß das Kind den ganzen Tag schlafen würde. Entsprechende Medikamente sorgten dafür. Und es war nicht etwa deshalb so abgemagert, weil kein Geld für Essen dagewesen wäre. Mit dem, was sie Tag für Tag in der B-Ebene einnahm, hätte die Frau bequem ein Dutzend Kinder beköstigen können.
Er ging neben ihr in die Flocke. In seiner Rechten hielt er zwischen Daumen und Zeigefinger einen Hundertmarkschein. Er beugte sich vor und stellte ihr flüsternd einige Fragen. Sie hörte aufmerksam zu und schielte begehrlich auf das Geld, schüttelte aber den Kopf. Fabio richtete sich auf und ging wieder. Er hatte an ihrem Blick erkannt, daß sie ihm die Wahrheit gesagt hatte. Sie wußte nicht, wo Johannas Bruder war.
Fabio fuhr mit der Rolltreppe zurück nach oben und ging zum Südeingang. Er ließ die Augen über die Stricher wandern, die sich hier herumtrieben und auf unauffällige Weise versuchten, mit ihren Freiern ins Geschäft zu kommen. Er steuerte auf einen der Typen zu, der wie ein gejagtes Tier hin und her lief und mit flackernden Augen seine Umgebung taxierte. Er war höchstens siebzehn Jahre alt. Von seinen Schläfen aus zogen sich zwei kahlrasierte Streifen bis zum Hinterkopf, seine Augen waren mit schwarzem Khol umrandet. Er trug ein ärmelloses, fleckiges Achselshirt, das die billigen Tätowierungen an seinen dünnen Oberarmen unbedeckt ließ.
Fabio wußte sofort, was dem Jungen fehlte. Ein Hunderter würde sein vordringlichstes Problem auf der Stelle lösen. Fabio zeigte ihm das Geld und stellte ihm seine Frage.
»In Offenbach, da wo er früher auch schon gedealt hat«, sagte der Junge sofort. Seine Lippen zitterten, auf seiner Stirn stand Schweiß. Fabio erkannte, daß er bereits Schmerzen haben mußte. Er erkannte aber auch, daß der Junge log, daß
Weitere Kostenlose Bücher