Bankgeheimnisse
Dachterrasse des Penthouse. Sie umklammerte die Brüstung und starrte über die Stadt. Es war halb acht, aber finster wie um Mitternacht. Der Regen, der seit gestern unablässig die Luft mit einem feuchten Schleier und den Asphalt mit ölig leuchtenden Schlieren überzog, peitschte ihr Gesicht, und der Wind riß ihr die Haare über die Augen. Sie ließ es geschehen, reglos wie die grauen Türme, die den Horizont verdunkelten. Ihre Lippen waren blau vor Kälte. Die Schärfe des Windes hatte die Temperaturen sinken lassen. Das scharlachrote Laub der Jungfernrebe, die sich über die Pergola der Terrassenüberdachung rankte, flatterte und wurde vom böigen Wind gegen die Hauswand geschlagen wie eine Schar gefesselter blutiger Vögel.
Johanna trug dasselbe taillierte grüne Seidenkostüm, in dem sie das Büro verlassen hatte. Es stand am Hals offen und ließ den hellen Spitzeneinsatz des Tops sehen, das sie statt einer Bluse darunter anhatte. Sie trug weder Jacke noch Mantel gegen die Kälte. Ihr Körper war kalt bis ins Mark, aber sie fühlte nichts. Sie blinzelte in den strömenden Regen, der ihr über die Stirn und in die Augen lief, und sie konnte immer nur denken: Wiking. Wiking hat Klingenberg ermordet. Weiter kam sie nicht. Ein ziehender Schmerz kroch ihre Schenkel hoch, setzte sich in ihrem Unterleib und tief im Kreuz fest. Sie ignorierte den Schmerz ebenso wie den Regen und die Kälte.
Begleitet von einer Kakophonie des Donners fuhr eine Serie gezackter Blitze hinter dem Messeturm nieder und ließ die Silhouette des Gebäudes aufleuchten wie ein modernes Spukschloß. Die offene Terrassentür schlug mit harter Regelmäßigkeit gegen einen der Pflanzkübel, gefolgt von einem schwachen Klingeln. Johanna hörte es am Rande ihrer bewußten Wahrnehmung, ohne auch nur die leiseste Regung zu verspüren, ihren Platz an der Brüstung zu verlassen. Im Wohnzimmer klingelte das Telefon. Es klingelte zum viertenmal innerhalb der letzten halben Stunde. Ab und zu klingelte es auch an der Wohnungstür. Jemand versuchte dringend, sie zu erreichen.
Irgendwann hörte das Klingeln auf. Sie legte den Kopf zurück, die Augen geschlossen. Wasser lief ihr in die Nasenlöcher. Ihre Kleidung tropfte vor Nässe.
»Johanna!« Die Stimme drang schwach an ihr Ohr, zerrissen vom Heulen des Windes. »Verdammt, ich weiß, daß du da oben bist! Ich sehe dich doch! Mach auf! Bitte, mach mir auf!«
Sie öffnete langsam die Augen und starrte in die Dunkelheit, bis sie von einem in der Nähe niedergehenden Blitz geblendet wurde. Einen Lidschlag lang sah sie im Aufleuchten des Blitzes die Gestalt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Micky«, flüsterte sie mit kalten Lippen. Sie stieß sich von der Brüstung ab und ging ins Penthouse, eilte durch das Wohnzimmer, den Flur. Sie drückte sekundenlang den Türsummer, ohne loszulassen, öffnete dann die Wohnungstür und lauschte, bis sie leise Schritte unten im Treppenhaus wahrnahm. Er war im Haus. Es war dunkel, aber sie wagte nicht, das Licht anzuschalten. Ihr Atem ging stoßweise, und sie preßte die Hand gegen ihren schmerzenden Unterleib. Sie riß die Tür weiter auf, lief auf den Gang hinaus, beugte sich über das Geländer.
Sie sah seinen blonden, nassen Schopf, als er die Kehre zur letzten Treppe umrundete, sich am Geländer festhielt und mit merkwürdig schleppenden Schritten die Stufen erklomm. »Micky! Mein Gott!« entfuhr es ihr.
Er war krank. Sein Gesicht war teigig bleich, die Lippen blutig gebissen. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Doch nicht nur an den Lippen war Blut. Es lief aus seinen Ärmeln über seine Hände, befleckte das verwaschene Blau seiner Jeans und tropfte auf den makellos hellen Marmor der Treppenstufen.
Er kam mit unsicherem Gang auf sie zu. Seine Augen waren riesengroß. Sie unterdrückte einen Laut des Entsetzens, als sie sah, wie schlecht es um ihn bestellt war. »Deine Handgelenke. Lieber Himmel, du hast...«
»Ja, ich habe«, unterbrach er sie heiser. »Das war meine einzige Möglichkeit, da wieder rauszukommen.« Er taumelte gegen sie, und sie griff unwillkürlich nach ihm, um ihn zu stützen, aber er war zu schwer und ging trotz ihrer Anstrengungen, ihn zu halten, in die Knie. Halb zerrte, halb schob sie ihn in die Wohnung und drückte die Tür hinter sich zu. »Micky, was hast du getan? Herrgott, warum? Ich hätte doch... ein guter Anwalt hätte vielleicht...«
»In hundert Jahren nicht, Schwesterherz.«
»Wie hast du...«
»Ich hab den
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