Bankgeheimnisse
Augen wurden starr, er sackte gegen die Wand und griff nach seinem Hals. »Hab’s gesagt«, preßte er gurgelnd heraus, »bringe dir nichts... als... Ärger...«
»Micky«, stieß Johanna hervor. Sie sah, daß das Blut durch seine Finger sprudelte, dann wurde ihr die Sicht versperrt. Der dunkel gekleidete Fremde faßte ihre Jackenaufschläge und ruckte sie herum, schob sie ebenfalls an die Wand. Ihr Kopf schlug gegen die gedimmte Jugendstilleuchte direkt neben ihr. Einen Augenblick lang war ihr schwarz vor Augen, dann erkannte Johanna das Blut ihres Bruders auf dem gezackten, dünnen Stahl in der behandschuhten Faust des Mannes. Sie durfte nicht schreien. Sie durfte nicht schreien!
Ich schreie nicht! Tu ihm nichts! Tu ihm nichts! Sie schrie nicht, aber sie kämpfte mit den Kräften einer Furie gegen den Griff des Mannes, der brutal den Stoff ihrer Jacke zusammengerafft und gegen ihre Brust gepreßt hielt. Ihre Arme fuhren wie Dreschflegel durch die Luft und prügelten auf den Mann ein, auf seine Schultern, seinen Kopf, gegen seine Arme. Doch sie war klein und zart, sie hatte kaum mehr Kraft als ein Kind. Der Griff des Mannes lockerte sich nicht. Micky erschien wieder in ihrem Gesichtskreis. Er war zu Boden gerutscht, eine Hand immer noch gegen den Hals gepreßt. In der anderen hielt er den kleinen roten Fotoapparat.
Der gesichtslose Mann drängte sich gegen sie, sein keuchender Atem traf ihre Lippen. Bei ihrem nächsten Schlag verlor er die Sonnenbrille, und Johanna gewann flüchtig den Eindruck eines bösartigen, stechenden Blickes, bevor er ausholte, das blinkende Werkzeug in der hoch erhobenen Hand. Johanna riß ihr Knie nach oben und traf auf nachgiebiges Fleisch. Die Augen des Mannes wurden glasig, und er taumelte ächzend zurück, zertrat mit dem Absatz den Fotoapparat zu winzigen roten Splittern. Johanna starrte sie an, dann glitt ihr Blick höher, zu Mickys weit aufgerissenen Augen. Sie erkannte ein schwaches Flattern der Lider, ein Zucken seines Mundes, aus dem kein Atem mehr strömte. Im selben Moment brachen seine Blicke, er war tot.
Sie hatte ihm nicht helfen können, von Anfang an nicht.
»Ich hab nicht geschrien«, sagte sie mit kindlich hoher Stimme zu dem Fremden. »Aber du hast ihm weh getan. Du hast meinem Bruder weh getan!«
Der Mann hielt sich mit zusammengekniffenen Augen die schmerzenden Genitalien. Die andere Hand umkrampfte immer noch das spitze, gezackte Ding, mit dem er Micky die Halsschlagader aufgerissen hatte. Er kam geduckt näher, die Hand mit dem Einbruchswerkzeug langsam in die Tasche seiner Jacke schiebend. Sie kam mit einem Springmesser wieder heraus. Johanna sah benommen, wie die blitzende Klinge hervorschoß. Sie schüttelte den Kopf, um die Schatten zu vertreiben, die plötzlich ihre Wahrnehmungen verdunkelten.
Ein gellender Aufschrei zerriß die Luft und löste Johanna aus ihrer Erstarrung.
»Johanna!« Fabio stand breitbeinig in der offenen Tür, zum Sprung geduckt wie eine Dschungelkatze.
Der Fremde fuhr bei Fabios Schrei herum, das Messer erhoben. »Fabio, paß auf!« schrie Johanna. Hinter dem jungen Italiener war ein anderer Mann aufgetaucht, kleiner, aber ähnlich gekleidet und ebenso mit Mütze und Brille maskiert wie der erste. Bevor Fabio sich dieser neuen Bedrohung stellen konnte, streckte der kleinere Mann ihn mit einem raschen, gezielten Handkantenschlag in den Nacken nieder. Er trat blitzartig einen Schritt zur Seite, als Fabio mit dumpfem Aufschlag bäuchlings zu Boden fiel.
Vom letzten Treppenabsatz klangen deutliche Geräusche in die Wohnung. Hastige Schritte. Jemand rannte die Treppe herauf. Dann hörte Johanna von draußen laute, erregte Männerstimmen. Ihr Blick ging zum Eingang, dann wieder zurück zu den beiden Eindringlingen. Der größere schien die Entfernung zwischen sich und Johanna abzuschätzen, bevor er von dem kleineren am Arm gepackt und ins Wohnzimmer gezerrt wurde. Ein heftiger Luftzug ließ die Wohnzimmertür zuschlagen. Die Terrasse. Sie waren auf die Dachterrasse geflüchtet. Von dort führte die Feuerleiter nach unten.
Johanna wandte sich wieder zur Wohnungstür. Fabio lag immer noch lang ausgestreckt auf dem Bauch. Er bewegte sich schwach und röchelte dabei durch die Nase. Über ihm stand Leo. Sein teurer Trenchcoat war naß, das blonde Haar ringelte sich feucht in seine Stirn. Auf seinem Gesicht wechselten unterschiedliche Gefühle. Angst, Wut. Sorge, die in offene Erleichterung umschlug, als er Johanna aufrecht mitten in der
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