Bankgeheimnisse
Diele stehen sah. Und dann, beim Anblick des zusammengesackten, toten Jungen, Entsetzen.
»Johanna!« Er trat rasch auf sie zu, riß sie an sich. Sie hing schlaff in seinen Armen, gelähmt vom Schock.
»Johanna?«
»Er ist tot. Mein Bruder ist tot«, sagte sie seltsam tonlos.
»Johanna...«, begann er.
»Er ist tot. Micky ist tot.«
Er hielt sie ein Stück von sich weg. Ihr Gesicht war weiß wie die Wand, sie hatte blutige Male in der Unterlippe, die sie beim Kampf gegen den Fremden zerbissen hatte.
»Wir müssen aufpassen«, sagte sie mit aufkommender Hysterie. »Sie sind auf die Terrasse gelaufen! Vielleicht sind sie noch da! Vielleicht warten sie draußen!«
Er schüttelte sie. »Beruhige dich! Johanna, hörst du mich? Sie sind weg! Es ist okay, es ist alles okay, jetzt bin ich ja hier!«
Ihre Lider flatterten. Leo sah, daß sich ihre Pupillen unnatürlich vergrößert hatten. Die Iris war ein kaum erkennbarer, dünner blauer Ring um bodenlose schwarze Tiefen. Ihr Körper versteifte sich. »Ich will hier raus! Laß mich weg! Ich will hier raus!« Sie versuchte, sich aus Leos Armen zu befreien, aber er hielt sie weiterhin an sich gedrückt. »Schsch, jetzt atme erst mal durch, ich bringe dich gleich von hier weg!«
»Micky ist tot!« schrie sie, jetzt unverkennbar hysterisch. »Fabio ist verletzt! Wir müssen die Polizei rufen!« Sie riß sich los, wollte zum Telefon. Vor der Wohnzimmertür zögerte sie, kehrte um und rannte zum Ausgang. Dort stand ein Mann in der offenen Tür, massig, breitschultrig, plump wie ein Bär. Er trug ebenso wie Leo einen teuren Trenchcoat, der nachlässig offenstand und die makellosen Revers seines mitternachtsblauen Zweireihers sehen ließ. In den krausen, rötlichblonden Haaren seines Backenbarts glitzerten Regentropfen. Es war Wiking. Auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck unbestimmten Bedauerns.
Johanna öffnete den Mund, konnte jedoch keinen Laut von sich geben. Sie prallte zurück und stolperte über Fabios Füße. Er hatte sich herumgerollt und aufgesetzt. Mit schmerzlich verzogenem Gesicht massierte er seinen Nacken.
»Johanna«, sagte Wiking. Es klang seltsam traurig.
In ihrem Kopf wirbelten Bilder durcheinander, konfus und schreckenerregend. Micky mit blutigem Hals und gebrochenen Augen. Fabios hingestreckte Gestalt. Tropfende Bäume im Bois de Boulogne. Zwei verschiedene Augen, eines dunkel, das andere so hell wie eine polierte Silbermünze. Ein stechender, bösartiger Blick im Augenschlitz einer Strickmütze. Das Bild schob sich in den Vordergrund, ließ alle anderen verblassen. Johanna rang verzweifelt darum, die lebenswichtige Bedeutung dieses Bildes zu ergründen, alle Details zu jener Erklärung zusammenzufügen, die schon in Reichweite vor ihr lag, aber die Schwärze um sie herum verdichtete sich, legte sich über das Bild und deckte es zu. »Johanna!« Der Ausruf drang wie aus weiter Entfernung zu ihr. Er stammte von Leo, der hinter ihr stand und sie an den Schultern festhielt.
»Sie verliert das Bewußtsein!« Wikings Stimme.
Dann Fabio: »Faß sie nicht an, du Mistkerl! Du machst ihr ein Kind und interessierst dich dann einen Scheißdreck für sie!« Seine Stimme war das letzte, was sie hörte. Die Jugendstillampe zog sich zu einem blendend weißen Funken zusammen, der in ihren Augenwinkel huschte und dort schwächer wurde, bevor er erlosch wie eine Kerze im Wind.
Sie empfing verschwommene Eindrücke. Besorgte Gesichter. Dann die Gestalten weißgekleideter Männer. Wortfetzen schwebten um sie herum. »Abortgefahr... Valium intravenös... Vorsicht hier...«
Sie spürte die Kühle von Metall auf ihrem Bauch, zwischen ihren Beinen. »Frucht erhalten... Maximaldosis vierundzwanzig Stunden...« Als ihr Kopf zur Seite rollte, sah sie weißes Zucken auf schwarzem Bildschirm, bevor sie erneut das Bewußtsein verlor. Sie erwachte mit dem Gefühl der Schwerelosigkeit. Ihr erster Blick fiel auf ihren Arm. Am Handgelenk war mit Pflasterstreifen eine Kanüle befestigt, von der ein dünner Schlauch nach oben führte zu einer Flasche mit einer klaren Flüssigkeit, die an einem Ständer befestigt war. Ihre nächste Erkenntnis war, daß sie in einem Bett lag. Es war aus weißem Stahlrohr und hatte eine weißbezogene Bettdecke. Ein Krankenhausbett. Sie konnte von dort, wo sie lag, das Fenster sehen und dahinter ein Stück Himmel. Es hatte aufgehört zu regnen, und Dämmerlicht sickerte in den Raum.
Sie fühlte sich gut, seltsam leicht und frei. Träge bewegte sie die
Weitere Kostenlose Bücher