Bankster
können nicht gerade mal dreißig, ausgebildet und arbeitslos sein. Ich glaube das nicht, Markús. All die Dinge um uns herum, diese Wohnung, all die Sachen, die Ratenzahlungen, das hat nichts mehr mit unserem Leben zu tun. Mir wird übel von der Aussicht aus dem Wohnzimmerfenster.«
Das war das Ende eines Küchengesprächs. Die beste Sitzung, der ich je beigewohnt habe, obwohl wir die meiste Zeit nur über dies und das geplaudert haben. Wie Harpa am Ende alles zu einem Faden gesponnen, wie sie das Puzzleteil eingesetzt hat, das mir noch fehlte – jetzt weiß ich endlich etwas über meinen Zustand.
Ich fühle mich leichter, sogar unglaublich leicht. Ich bin das Kettenhemd los. Kettenhemden sind unbequem, das merkt man hinterher, und meines war sicher schon beschädigt, weil ich an den Abend denken musste, an dem wir beschlossen hatten, den Zellhaufen loszuwerden – da habe ich das Krachen in meinen inneren Stützbalken gehört und mich gewundert, dass ich nicht zusammengefallen und auf den Boden gesackt bin, ein Hautsack voller Brei –, aber ich saß da, starrte schutzlos auf das Radio auf dem Küchentisch und erlebte den Abend noch einmal: Wir lagen auf dem Sofa vor dem kleinen Fernseher – vier Monate nachdem wir zum ersten Mal nach einem Kinobesuch miteinander geschlafen hatten und zwei Tage nachdem Harpa mir von der Schwangerschaft erzählt hatte –, und während wir auf den Bildschirm guckten, redeten wir darüber. Ich weiß nicht mehr, was wir gesagt haben, nur noch, dass es ein bisschen erfreulicher war als Harpas zerbrechlicher Gesichtsausdruck – wir haben über unsere nahe Zukunft geredet, das Studium, spannende Arbeitsmöglichkeiten, Reisen –, da tauchte nirgendwo ein Kind auf, so früh im Drehbuch war etwas Derartiges nicht vorgesehen –, wir drückten ganz fest unsere Hände, als ob wir etwas mit Handschlag besiegeln wollten, was wir aber keineswegs taten, nicht bewusst –, leerten gleichzeitig unsere Colagläser, und dann ging ich in die Küchenecke und öffnete das Bier, das wir seit ein paar Tagen nicht mehr angerührt hatten. Die Bilder sind ganz scharf in meinem Kopf, aber es fühlt sich an, als würde ich fremden Menschen zusehen, das liegt am Blickwinkel, ich bin wie eine Kamera in meinem eigenen Gedächtnis.
Irgendwann habe ich vom Radio weg zu Harpa geguckt. Es war nicht ausgeschlossen, dass sie begriffen hatte, was sie da über die Kinder und Enkelkinder gesagt hatte, dass sie an den gleichen Abend dachte wie ich, dass wir auf unserer Zeitreise denselben Moment betreten hatten, ohne einander zu sehen, nur diese jungen Leute auf dem Sofa, die bereit waren, sich eine neue Zukunft zu kaufen anstelle der offensichtlichen, bereit, den höchsten Preis für eine bombensichere Zukunft zu zahlen, ohne eine Ahnung davon zu haben, wie schmerzhaft es sein würde, den Begriff Schicksal in der Realität kennenzulernen.
Nein, Harpa war sicher nicht mit mir in der Wohnung im Studentenwohnheim. Sie hatte einen so ergreifend entrückten Gesichtsausdruck, dass sie sicher irgendwo allein war, vielleicht mit dem positiven Schwangerschaftstest im Badezimmer, vielleicht machte sie aber auch die Abtreibung beim Arzt noch einmal durch. Da beugte ich mich zu ihr und umarmte sie, ohne etwas zu sagen. Die Mittagsnachrichten fingen an. Eine große Demonstrantengruppe hatte das Alþingishús umzingelt und schlug mit Suppenkellen, Löffeln und Hämmern auf Töpfe und Pfannen. Während wir uns umarmten und keine Anstalten machten, etwas zu sagen, kam dumpfer Lärm aus dem Radio, die ganze Nachrichtensendung über blieben wir umschlungen und zogen die Nasen hoch, um uns nicht zu beschmieren.
21. Januar – 00:54 Uhr
Um zehn Uhr war Harpa immer noch nicht von ihrer Freundin zurück. Ich habe mir – nachdem ich schon den gesamten Abend allein ferngesehen hatte – auch die Zehnuhrnachrichten allein angesehen, Livebilder von der Demonstration: Die Demonstranten hatten ein ordentliches Feuer entfacht, und auf die Polizisten, die das Alþingishús umstellt hatten, regnete es Eier und Milchprodukte. Es kam mir surreal vor, den Wahnsinn auf diesem Platz zu sehen, auf dem Austurvöllur vor dem alten Steingebäude mit dem Balkon, auf dem manchmal der Präsident steht und den wohlwollenden Bürgern winkt, erinnere mich aber auch, gedacht zu haben, dass aus den samstäglichen Solidaritätstreffen endlich richtiger Protest geworden ist, unmaskierte Unzufriedenheit, die auch mich antrieb. Zum ersten Mal seit langer Zeit
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