Bannkrieger
Gut geworden. Auch hier wuchsen die Gebäude immer stärker in die Höhe. Fest an die Stadtmauern gelehnt, breiteten sie sich aus, mit weit über der Straße vorspringenden Obergeschossen, sodass die Sonne mancherorts Mühe hatte, bis aufs Pflaster vorzudringen. Erst in Burgnähe wurde die Bauweise großzügiger, rund um das Bollwerk gab es sogar einen breiten Gürtel unbebauter Fläche. So konnte, für den Fall, dass einmal ein Stadtbrand wütete, das Flammenmeer nicht auf das Herrscherhaus übergreifen.
Die Burgmauern erhoben sich auf der obersten Ebene eines treppenförmig ansteigenden Felsens, der nicht nur Sonne, Wind und Regen widerstand, sondern auch jedweder Bearbeitung durch Hammer und Meißel trotzte. Niemand wusste zu erklären, wie es Dagomars Ahnen gelungen war, die breiten Stufen so exakt und sauber aus dem Gestein zu schlagen. Und auch keine Chronik vermochte dieses Mysterium zu erhellen. Nur manchmal, wenn die Zungen der Alten durch Wein gelockert waren, raunten sie vertrauenswürdigen Zuhörern über die leeren Humpen hinweg zu, dass dieses Wunder nicht dem Geschlecht der Dagomar zuzuschreiben war, sondern einer älteren, vor unzähligen Generationen ausgestorbenen Herrscherlinie. Und dass Greifenstein auf den Ruinen einer versunkenen Stadt ruhte.
Ältere Fundamente, die ab und an bei Straßenarbeiten zutage gefördert wurden, schienen diese nebulösen Gerüchte zu bestätigen, aber wer oder was für den Untergang der alten Greifensteiner verantwortlich gewesen war, blieb unwiederbringlich im Dunkel der Vergangenheit verborgen.
Die markanten Schatten einiger im Aufwind segelnder Falken und Bussarde umkreisten drei der vier großen Türme und die fünf kleineren, die der Festung entwuchsen. Nur von dem großen Südturm, der den Jadepriestern vorbehalten war, hielten sie sich fern.
Auf dem Innenhof sahen Mägde und Knechte von ihrer Arbeit auf, als Yako und die anderen ihre Pferde vor der großen Freitreppe zügelten. Der Aufgang führte zu den beiden lang gestreckten Vorhallen, die in den Thronsaal mündeten. Speziell abgerichtete Greifvögel hatten bereits ihre Ankunft angekündigt. Sie waren Dagomars Augen, aber auch seine Zungen, die Nachrichten schneller und sicherer als jede Brieftaube überbrachten.
Für alle Diener, die bisher noch nichts von dem Überfall auf die Jadeträgerin gehört hatten, genügte ein Blick in Meas müdes und verschmutztes Gesicht, um das abrupte Ende ihrer Rundreise deutlich zu machen.
Über ihren Köpfen scherte auf einmal einer der kreisenden Falken aus seiner endlosen Bahn aus und hielt auf den Südturm zu, den die anderen Tiere mieden. Geschickt landete er auf einem Unterarm, der ihm durch ein Fenster entgegengehalten wurde. Nachdem sich die Krallen in einen weit ausgestellten Lederhandschuh geschlagen hatten, verschwand der Greifvogel mitsamt dem Arm im Turmzimmer.
Auf ihrem Weg durch die mit bunten Fresken und Wandteppichen verzierten Hallen fuhr sich Nispe mehrmals mit fahrigen Bewegungen durchs Gesicht. Doch so viel er auch wischte, seine Stirn glänzte weiterhin vor Schweiß. Dicke Sturzbäche rannen ihm über die erhitzten Wangen, denn er wusste, dass man ihm das Verschwinden des Rings von allen Beteiligten am meisten anlasten würde.
Mea, die seine Nervosität bemerkte, ergriff seine linke Hand und drückte sie, um ihm Mut zu machen. Ihre Zuversicht war wirklich unerschütterlich. Vermutlich war sie die Einzige, die nicht damit rechnete, dass die Eskorte an ihrer Seite nicht nur dem Schutz vor weiteren Überfällen diente, sondern auch, um mögliche Fluchtgedanken gleich im Keim zu ersticken.
Der Doppelposten, der den Eingang zum Thronsaal bewachte, stieß die goldbeschlagene Flügeltür auf, als sie auf zehn Schritte heran waren. Ohne auch nur einen Hauch langsamer zu werden, eilten sie an den Wachen vorbei, die schon wieder mit ausdruckslosem Gesicht nach vorn blickten. Ein dumpfer Gong ertönte, als sie den sonnendurchfluteten Raum betraten.
Normalerweise war der durchdringende Schall, der Yakos Bauchwände erzittern ließ, dazu gedacht, dem König die Ankunft der Audienzsuchenden zu melden. In all den Jahren, in denen sie am Greifensteiner Hof diente, hatte es Yako jedenfalls noch nie erlebt, dass Dagomar bereits ungeduldig auf seine Besucher wartete. Für gewöhnlich trat der Herrscher erst ein, wenn bereits alles am Boden kniete.
Doch dies waren keine gewöhnlichen Zeiten. Der Raub des Ringamuletts war ein unerhörter Vorgang, der selbst die
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