Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
seinem ausdrücklichen Willen soll sie niemals erfahren, daß ihr Vater sie ohne einen Penny zurückgelassen hat. Mr. Routhland besteht darauf, Miss Royal für immer zu verheimlichen, daß er es ist, der für ihre Erziehung bezahlt und für alle ihre Ausgaben aufkommt.
So habe ich gestern eine ganz neue Einstellung zu Mr. Routhland bekommen. Als er herausfand, wie einsam sich sein Mündel in London fühlt, gab er mir den Auftrag, seine schönste Stute, das Vollblut Enchantress, nach London verschiffen zu lassen …“
Royal blickte fassungslos auf die vergilbten Seiten nieder und gewann völlig neue Einsicht in ihre Jugend. Tränen tropften auf das Papier und verwischten die Tinte.
„O Damon“, schluchzte Royal Routhland und barg das Gesicht in den Händen. „Das habe ich nicht ahnen können. Warum, warum hast du es mir nie gesagt?“
Länger als eine Stunde saß Royal an dem Schreibtisch und versuchte der aufgestörten Empfindungen Herr zu werden. Da hatte sie jahrelang in falschem Selbstmitleid geklagt, daß sich niemand um sie kümmere und niemand sie liebe. John Bartholomew hatte sich väterlich um sie gekümmert, und Damon, Damon hatte es auch getan. Sie erinnerte sich an das Gespräch im Garten hinter dem Haus in Savannah, da sie Damon wegen des Geldes zur Rede gestellt hatte. Selbst dann hatte er nicht zugegeben, daß sie all die Jahre her von seinem Geld gelebt hatte. Weiter blätterte sie zurück und fand noch etwas, das ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.
„… heute gab mir Mr. Routhland den Auftrag, alle Gläubiger auszuzahlen, denen Mr. Douglas Bradford noch Geld schuldete. Es waren zahlreiche, und die Summen sind ungewöhnlich hoch. Auf meine Frage, warum er es auf sich nehme, die Schulden eines Mannes einzulösen, den er selbst nur flüchtig gekannt habe, gab er mir eine Antwort, von der ich nicht sicher bin, ob ich sie verstanden habe. Er bemerkte, daß er einem kleinen Mädchen in die Augen geschaut und tiefen Schmerz darin gelesen habe.“
Damon hatte ihr in die Augen geschaut und den Schmerz darin gesehen. Daraufhin hatte er alles darangesetzt, ihr das Leben leichtzumachen, alles, was in seiner Macht stand. Damon war ein unsäglich nobler Mensch. Was auch immer in ihrem Leben geschehen sein mochte, er hatte mit seiner ganzen Kraft hinter dem kleinen törichten Mädchen gestanden, ohne daß sie es jemals erfahren hätte. John Bartholomew hatte zwar die Briefe nach London geschrieben, aber in Wahrheit waren sie von Damon Routhland gekommen.
„O Damon“, schluchzte Royal fassungslos, „wenn du jetzt in meine Augen schautest, würdest du dann auch den Schmerz darin sehen und versuchen, mir alles leichter zu machen? Ich bin kein kleines trauriges Mädchen mehr, sondern eine Frau, die dich verzweifelt liebt, deine Frau, Damon. Und ich trage dein Kind unter dem Herzen.“
Schließlich trocknete sie die Tränen und schloß das Kassenbuch. Sie hatte einen tiefen Blick in die Seele ihres Mannes Damon Routhland geworfen und begriffen, wie wunderbar er war. Er hatte ihr immer aus Güte und Menschlichkeit beigestanden. Aber sie wollte mehr. Sie wollte sein ganzes Herz. Sie sehnte sich nach seiner Liebe. Ob er sie eines fernen Tages vielleicht doch noch lieben würde, sie, seine Frau? Sie hatte keine Ahnung, wo er sich in diesen Tagen aufhielt und ob er nicht vielleicht verwundet war.
Royal Routhland legte beide Hände behutsam auf den gerundeten Leib, in dem Damons Kind wuchs. Dieses kostbare Leben, das sie in sich trug, war das größte Geschenk, das Damon ihr gegeben hatte.
*
Mai 1781
An dem Tag, an dem Royal erfuhr, daß General Cornwallis die englischen Truppen hatte nach Norden und in Virginia einmarschieren lassen, schenkte sie Damon Routhlands Sohn das Leben. Dabei hatte der Morgen ganz und gar nicht ungewöhnlich begonnen. Royal hatte neben Alba in der Küche gestanden, wo die Haushälterin Obst schälte, als sie die erste Schmerzwelle spürte. Unwillkürlich tastete Royal nach einem Halt und rang nach Atem.
„Sie hätten liegenbleiben sollen, Miss Royal“, tadelte Alba freundlich.
„Helfen Sie mir nur die Treppe hinauf in mein Zimmer, Alba, und schicken Sie dann nach der Hebamme.“
Während sie sich schwer auf die Alte stützte, schaute die ihre Herrin besorgt an. „Sollten wir nicht doch besser auch einen Arzt rufen, Miss Royal?“
„Ich will nicht, daß einer dieser Royalisten mir beisteht, Damon Routhlands Kind zur Welt zu bringen, Alba.“
Alba
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