Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
ausschlagen, Royal Bradford. Und nach der Unterredung haben wir Sie dann vermutlich zum letztenmal gesehen.“
Royal klopfte an die Tür und trat rasch ein, um Kathleen loszuwerden. Die jedoch folgte ihr hinein. Drinnen wurden sie nicht nur von der Vorsteherin, sondern auch von der Musiklehrerin erwartet. Gehorsam setzte sich Royal auf den Stuhl, den Mrs. Fortescue ihr anbot, und fragte sich im stillen, warum man sie hatte rufen lassen.
Mrs. Fortescue lehnte sich zurück und schaute Royal lange an. „Mrs. Hargrove hat mir mitgeteilt, daß sie eine wertvolle Brosche aus ihrem Zimmer vermisse. So ungern ich annehme, Sie könnten damit zu tun haben, so kann ich nicht leugnen, daß Kathleen Griffin das behauptet. Haben Sie den Schmuck weggenommen?“
Royal sprang heftig auf und fuhr herum. In der Tür stand Kathleen und lächelte kaum merklich. Dann hob sie die Hand und wies mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Royal.
„Sie und keine andere hat es getan, Mrs. Fortescue. Ich konnte mir erst nicht vorstellen, warum ich sie aus Mrs. Hargroves Zimmer hatte kommen sehen. Jetzt freilich weiß ich es.“
„Ich war niemals in Mrs. Hargroves Zimmer, und ich bin keine Diebin. Warum sollte ich stehlen?“
Die Vorsteherin hielt ihren Blick ruhig und ernst auf Royal gerichtet. Endlich sagte sie sachlich: „Dann haben Sie gewiß nichts dagegen, daß sich Mrs. Hargrove bei Ihnen umsieht.“
„Ich habe nichts zu verbergen.“ Stolz und Zorn lagen miteinander im Streit. Kathleen Griffin lächelte immer noch, und Royal wurde auf einmal unheimlich zumute. Mrs. Hargrove verließ den Raum, Mrs. Fortescue ordnete einen Stapel ohnehin feinsäuberlich geschichteter Papiere auf dem Schreibtisch.
Royal hörte, wie die Uhr tickte, und hatte plötzlich das unbestimmte Gefühl, in eine Falle geraten zu sein. Kathleen Griffins Beschuldigung hatte so selbstverständlich geklungen. Irgend etwas stimmte nicht. Royal kämpfte gegen die Angst an, die ihr die Kehle verengte und den Atem abschnüren wollte. Was ging hier vor? Am liebsten wäre sie weggelaufen, weit weg, um niemals wiederzukommen, ohne sich umzusehen, nur weg.
Eine halbe Ewigkeit schien vergangen zu sein, als die Tür aufging und Mrs. Hargrove mit trauriger Miene eintrat. Mit fassungslosem Blick auf Royal sagte sie: „Ich habe meine Brosche gefunden. Sie lag unter Ihrer Matratze.“
Royal stand langsam auf und schüttelte wie betäubt den Kopf. Sie wollte etwas sagen, doch kein Laut kam über ihre Lippen. Nie hatte sie sich so hilflos gefühlt. Das durfte nicht wahr sein. Wie hatte so etwas geschehen können?
„Wir brauchen Sie nicht länger, Kathleen“, bemerkte Mrs. Fortescue kühl. „Gehen Sie auf Ihr Zimmer, und bewahren Sie Stillschweigen über diesen Vorfall.“
Kathleen Griffin stieß Royal so brüsk zur Seite, daß sie taumelte. „Aus dem Weg, Diebin!“
„Nun ist es aber genug“, schnitt Mrs. Fortescue ihr eisig das Wort ab. „Und lassen Sie es sich gesagt sein: Ein Verräter ist in meiner Sicht nicht besser als ein Dieb.“
Royal war so verstört, daß ihr der kurze Wortwechsel ganz entging. Erst die Stimme der Vorsteherin holte sie in die Wirklichkeit zurück. Verwundert fand sie sich allein mit der strengen Mrs. Fortescue.
„Setzen Sie sich wieder, Royal. Ich will der Sache doch auf den Grund gehen.“ Ihre Miene war unbewegt und verriet nicht, was in ihr vorging.
„Ich habe die Brosche nicht genommen, aber ich weiß, daß Sie mir nicht glauben“, beteuerte Royal und sank nieder auf den Stuhl. „Warum nur hat Kathleen Griffin mir das angetan?“
„Man hat das Schmuckstück bei Ihnen gefunden“, hielt Mrs. Fortescue dagegen. „Ich weiß, daß Sie nicht aus freier Entscheidung hier sind, Royal. Wäre es möglich, daß Sie es mit dieser Tat darauf anlegen, nach Hause geschickt zu werden?“
Entsetzen lag in den Zügen des Mädchens. „Ob ich hier glücklich bin oder nicht, ich bin keine Diebin, und ich habe Mrs. Hargrove sehr gern. Wie könnte ich meine Sorgen auf ihre Kosten loswerden wollen?“ Sie ahnte nicht, wie zornig und verletzt sie aussah mit dem kämpferischen Gesichtsausdruck, den lodernden blauen Augen. Leise wiederholte sie: „Ich bin keine Diebin.“
Mrs. Fortescue seufzte. Plötzlich fiel Royal siedendheiß ein, was wohl ihr Vormund von ihr denken würde, wenn er von diesem Verdacht erführe.
„Was soll ich bloß mit Ihnen tun?“ sagte Mrs. Fortescue und schob eine Haarsträhne unter die Haube. „Soll ich Sie mit Schimpf und
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