Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
Schreiben. Damon Routhland hatte ihr ein Pferd versprochen, und er hatte es nicht vergessen.
„Gehen Sie jetzt, und schauen Sie sich Ihr Geschenk an“, mahnte Mrs. Fortescue. „Es steht unten im Stall. Sie sind um diesen Vormund zu beneiden. Ich habe auch einen Brief seines Sekretärs erhalten. Er bittet darin, daß Sie sich auch wirklich um das Wohlergehen des schönen Tieres kümmern.“
Mit strahlenden Augen nickte Royal. Schon auf dem Weg zur Tür, drehte sie sich noch einmal um und versicherte aus übervollem Herzen: „Das werde ich ganz gewiß tun, mein Wort darauf, Madame.“
Mrs. Fortescue schaute ihrem Zögling sinnend nach. Vom ersten Sehen an hatte sie an dieses eigenartige Geschöpf geglaubt. Royal Bradford war ein ungewöhnliches Mädchen.
Royal aber fand eine wundervolle Rappstute in der Box. Hoch, feinnervig und mit einem seidenglänzenden Fell, machte sie ihrem Namen alle Ehre – Enchantress, die Bezaubernde. Vom ersten Augenblick an zutraulich und sanft, verriet sie dennoch Temperament und Rasse, und Royal liebte sie sofort. Endlich hatte sie eine Freundin auf dieser Schule. Freilich wurde trotzdem der Wunsch übergroß, nach Hause gehen zu können. Mußte nicht der Mann, der so verständnisvoll war, Royal ein so herrliches Tier zu schenken, auch einsehen, daß sie unbedingt nach Savannah zurückkehren wollte?
*
Liebster Papa,
seit dem Vorfall mit Mrs. Hargroves Brosche sind die anderen Mädchen noch kälter und abweisender mir gegenüber geworden, als machten sie mich nun dafür verantwortlich, daß Kathleen Griff in die Schule verlassen mußte.
Ich bin sehr froh, mit meinen Studien voranzukommen und Dir jeden Abend zu berichten, liebster Papa. Und ich bin sehr dankbar, daß ich Enchantress habe, die mir immer freudig entgegen wiehert, wenn ich sie aus der Box hole.
Seit Kathleen Griffins wenig rühmlichen Abgang waren zwei Monate vergangen, aber immer noch war ihre Anwesenheit irgendwie fühlbar. Täglich trafen Royal anklagende Blicke, schlug ihr nach wie vor eisige Ablehnung entgegen. War das Mädchen aus den Kolonien erst einsam nur gewesen, so wurde es nun ganz offensichtlich von den Mitschülerinnen verachtet und gequält.
Obgleich die Blätter sich noch nicht bunt färbten, lag schon eine erste Herbstahnung in der Luft. Royal saß am Fenster und schaute hinüber zu den Häusern neben dem Park. An diesem Tage sollte nun der übliche Schulausflug unternommen werden. Deshalb hatte sich Royal den Kopf zerbrochen, woher sie eine glaubhafte Ausrede nehmen könnte, um nicht daran teilnehmen zu müssen. Dort in einem der stattlichen Gebäude hatte sie oft schon Kinder herumtollen und lachen sehen. Einmal mehr stellte sie sich die Frage, wie es wohl sein mochte, sich bei jemandem geborgen zu fühlen, in einer Familie daheim zu sein …
Nach leisem Klopfen trat Hannah ins Zimmer und brachte einen Brief. Mit zitternden Händen griff Royal danach. Er kam aus Savannah. Sie schloß sekundenlang die Augen und betete, es möge endlich die Erlaubnis sein, nach Georgia zurückzukehren.
Das Schreiben trug die Unterschrift von John Bartholomew, nicht die des Vormunds. Royal nahm allen Mut zusammen und las:
Liebe Miss Bradford,
im Auftrage Mr. Routhlands möchte ich Ihnen auf Ihren letzten Brief antworten. Mr. Routhland drückt durch mich seine Hoffnung aus, daß Sie sich bald in der neuen Umgebung einleben werden. Er wünscht dringend, daß Sie jeden möglichen Versuch unternehmen, Freundschaft mit Gleichalterigen zu schließen.
Viel Erfolg für Ihre Studien! Machen Sie weiterhin das Beste aus Ihren Möglichkeiten …
Damit hatte sich jede Hoffnung zerschlagen. Was half es Royal schon, wenn Mr. Routhland sie ermahnte, sich an die Mitschülerinnen anzuschließen, wenn sie so weit von daheim entfernt war? Noch drei endlos scheinende Jahre lagen vor ihr wie ein bodenloser Abgrund. Eine Träne rollte ihr über die Wange. Royal wandte sich ab, damit Hannah es nicht bemerkte. Weiterhin würde jeder Tag eine neue Demütigung bedeuten. Wie lange mußte sie wohl noch die bösartigen Hinweise ertragen, die Schuld an Kathleens Hinauswurf zu haben?
Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Sorgen bei Tante Arabella abzuladen. Doch nein, wozu auch noch sie belasten, wenn sie doch nichts an den Gegebenheiten ändern konnte? Bisher hatte sie es immerhin fertiggebracht, die Briefe nach Paris heiter klingen zu lassen, ohne auch nur anzudeuten, wie elend sie sich in Wahrheit
Weitere Kostenlose Bücher