Banyon, Constance - HG 032 - Bittersüße Jahre der Sehnsucht
Royal erstaunt, wahrscheinlich, weil sie allein kam, und lächelte erst, als er ihre Karte sah.
„Bitte folgen Sie mir, Miss“, sagte er und verbeugte sich. „Eine Privatloge ist für Sie reserviert.“
Als sie so dahinging, folgten ihr viele bewundernde Blicke aus den Augen der Männer, und in den Mienen einiger Damen stand blanker Neid. Sie erregte Aufsehen und wußte selbst nicht, warum. Sie konnte ja nicht ahnen, wie jugendfrisch und reizend sie in dem weißen Seidenkleid wirkte.
In der Loge stand ein Tischchen mit leckeren Köstlichkeiten, und es gab so viele Blumen, daß der schwere Duft ihr fast den Atem nahm. Nachdem ihr der Lakai den Stuhl zurechtgerückt hatte, zog er sich mit einer tiefen Verbeugung zurück. Auch hier fand Royal ein Briefchen:
Liebes Kind,
ich kann es kaum aushalten, bis ich Dich endlich wiedersehe. Komm nach der Vorstellung in meine Garderobe. Ich hoffe, daß wir miteinander zu Abend essen können.
Neugierig schaute Royal auf die vielen festlich gekleideten Menschen, die ringsherum ihre Plätze eingenommen hatten, und wartete ungeduldig auf den Beginn der Aufführung. Bald schon erloschen die Lichter bis auf einige wenige Wandleuchter. Das Gemurmel der Zuschauer verstummte, und der Vorhang öffnete sich. Man gab an diesem Abend Shakespeares Othello. Als Arabella Bradford in der Rolle der sanften Desdemona die Bühne betrat, ging fühlbare Bewegung durch das Theater. Eine Welle der Bewunderung schlug der gefeierten Heroine entgegen. Sie stand im Zenit ihrer makellosen Schönheit, besaß eine klare und tragfähige Stimme und bestach durch leidenschaftliches, überzeugendes Spiel.
Als Desdemona von ihrem eifersüchtigen Gatten erdrosselt wurde, schämte sich Royal nicht der Tränen, die ihr über die Wangen rollten, so sehr ergriff sie das unverdient tragische Ende der Heldin. Der Vorhang fiel, und nach einer kurzen atemlosen Stille brauste donnernder Beifall auf. Immer wieder mußte Arabella Bradford sich dem begeisterten Publikum zeigen. Einmal hob sie den Kopf, blickte zu der Nichte hinauf und warf ihr eine Kußhand zu. Bei allem Weltruhm, den sie sich in Frankreich und Italien erworben hatte, lag ihr nun die Heimat zu Füßen. Und sie verdiente das auch.
Der Lakai erschien wieder und bat Royal, ihm zur Garderobe von Miss Bradford zu folgen. Sie gingen durch einen engen Korridor bis vor eine Tür hinter der Bühne. Der Diener entfernte sich mit einer tiefen Verbeugung, und Royal klopfte leise. Sofort erschien Arabella Bradford auf der Schwelle. Sekundenlang sahen sich Tante und Nichte wortlos an, dann streckte Arabella die Arme aus, und Royal warf sich an die Brust ihrer einzigen Verwandten.
„Mein Liebes“, flüsterte Arabella gerührt. „Endlich sind wir wieder vereint.“
„Du hast mir so sehr gefehlt“, gestand Royal.
Arabella hielt sie auf Armeslänge von sich. „Mir ist fast, als würde ich mich selbst in deinen Jahren sehen. Nur war ich nie so schön“, gab sie ehrlich zu.
Royal prägte sich jeden Zug des vollkommen ebenmäßigen Gesichtes ihrer Tante ein und bezweifelte diese Worte sehr. Ein Morgenmantel aus gelber Seide unterstrich jede Rundung des Körpers und steigerte das Rot der Haare zu dem Lodern einer Flamme.
„Ich werde niemals so schön sein wie du, Tante Arabella.“
„Im Gegenteil, du wirst mich bald schon in den Schatten stellen.“
Royal drehte sich einmal um sich selbst und strahlte. „Das Kleid ist hinreißend, Tante Arabella. Ich danke dir dafür.“
„Ich wußte, daß es dir stehen würde. Du bist nun eine richtige junge Dame, Royal. Und wie hat dir das Stück gefallen? Hast du es genossen?“
„Du warst großartig. Ich werde dich in dieser Rolle immer vor mir sehen. Papa hätte so stolz auf dich sein können.“
Die beiden sahen einander in die Augen. Ein Schmerz, den sie längst überwunden geglaubt, regte sich von neuem in Arabella bei der aufrichtigen Bewunderung ihrer Nichte. „Wie habe ich mich immer nach der Anerkennung durch meinen Bruder gesehnt. Er aber hatte nur Tadel für mich.“
„Wer ist diese Schönheit?“ fragte da eine dunkle Stimme. Royal hatte sich mit der Tante und deren Zofe allein geglaubt und bemerkte erst jetzt einen Herrn, der sie aus dunklen Augen ungeniert musterte.
„Royal, darf ich dir den Marquis de Moreau vorstellen? Diese junge Dame ist meine Nichte, Miss Royal Bradford.“
Der Marquis war nicht mehr besonders jung, stämmig und untersetzt. Obwohl man ihn keineswegs als hübsch hätte
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